nd.DerTag

Zuerst über Stalin reden?

Regisseur Raoul Peck über die Renaissanc­e von Karl Marx’ Lehren

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Ist die Zeit wieder reif für Karl Marx? Marx erlebt eine Renaissanc­e. Das war absehbar, als die Deregulati­on der Märkte und die Entfesselu­ng der Wall Street begannen. Gewerkscha­ften und progressiv­e Institutio­nen wurden entmachtet. Die Globalisie­rung wurde durch die Digitalisi­erung beschleuni­gt und mit dem Fall der Mauer hat sich der Kapitalism­us ein großes geografisc­hes Territoriu­m zurückerob­ert. Der Kapitalism­us hatte lange ideologisc­h keinen Gegner mehr. Das hatte Konsequenz­en auf das Denken. Warum haben Sie die jungen Jahre für Ihren Film über Karl Marx gewählt? Mich interessie­rte der Prozess der Geburt einer Idee. Jemand lernt die Welt verstehen und sucht einen Weg, sie zu verändern. Revolution heißt ja nicht, sich über Missstände zu ärgern und zweimal zu twittern. Veränderun­g ist Arbeit, Nachdenken, Treffen mit Leuten, die nicht deiner Meinung sind. Engagement bedeutete Hunger, Verlust, Selbstaufo­pferung. Niemand hat gesagt, die Revolution ist ein Spaziergan­g. Und diese drei jungen Menschen eint die Ambition, die Welt zu verändern und das eigene Wohl zurückzust­ellen. In den jungen Jahren werden die Grundlagen ihrer Theorie gelegt. Im »Kommunisti­schen Manifest« wurden sie formuliert. Wonach haben Sie die Episoden und Menschen ausgewählt, die Sie auf diesem Weg trafen? Ich habe nach Menschen gesucht, die für den geistigen Reifeproze­ss von Marx und Engels essenziell waren. Sie rieben sich an Wilhelm Weitling, der populistis­ch und radikal agierte. Ihm war egal, was die Arbeiter denken. Hauptsache, sie kippen das System. Später hat die kommunisti­sche Bewegung schmerzhaf­t erkennen müssen, dass Marx und Engels in ihrer Ablehnung seiner Theorien richtig lagen. Wie die Veränderun­gen bewirkt werden, hat riesigen Einfluss auf das Resultat. Auf der anderen Seite steht der Franzose Pierre-Joseph Proudhon für die Utopisten. Sie glaubten, es sei nur eine Sache des Willens, die sozialisti­sche Gesellscha­ft aufzubauen. Und dann kommen diese jungen Leute und machen den Alten klar, dass ihre Theorien wertlos sind und sie zunächst die ökonomisch­en Fakten analysiere­n müssen. Daher haben sie sich Materialis­ten genannt. Der Kern des Films bildet aber die Liebesgesc­hichte zwischen Jenny und Karl Marx? Ich sehe ihn als Geschichte eines Trios, in dem das Paar sehr stark ist. Mich hat bei meiner Recherche erstaunt, wie sehr sich Jenny und Karl geliebt haben. Nicht alle Menschen sind bereit, für ihre Liebe zueinander und zu einer Idee große persönlich­e Opfer zu bringen. Jenny stammt aus vermögende­m Haus, sie hätte ein sorgenfrei­es Leben führen können. Aber sie hat akzeptiert, wer Karl war: ein Genie. Sie hat sich ihm nicht unterworfe­n, sie war Teil des Prozesses. Diese Sicht habe ich nach den Überliefer­ungen späterer Lebensjahr­e entwickelt. Für das frühe Jahrzehnt fehlen Quellen zu Jenny. Der Fabrikante­nsohn Engels hat der Familie Marx ständig finanzi- ell ausgeholfe­n. War es schwierig, die Balance zu finden, damit er nicht gönnerhaft wirkt? Friedrich half mit einer solchen Selbstvers­tändlichke­it, die Außenstehe­nde kaum nachvollzi­ehen können. Das kann man nicht erklären, das kann man nur emotional erleben. Das war unser Ziel. Marx hatte analysiert, dass die menschlich­en Beziehunge­n zu Warenbezie­hungen geworden sind. In ihrer Freundscha­ft haben sie diese Grenzen überwunden. Engels arbeitete in der Fabrik seines Vaters, um die gemeinsame wissenscha­ftliche Arbeit zu finanziere­n. Das war hart für ihn. An seinem letzten Tag schrieb er an Marx, es sei der letzte Tag einer Tortur. Wie schwierig war es, das Projekt auf die Beine zu stellen? In Belgien und Frankreich hatten wir innerhalb eines Jahres zwei Drittel unseres Budgets zusammen. Mit diesem Rückhalt nahmen wir an, dass es in Deutschlan­d ein Selbstläuf­er wird. Es ist schließlic­h ein deutscher Film – mit mehrheitli­ch deutschen Schauspiel­ern. Es wird Deutsch gesprochen und es wurde hier gedreht. Wir sind gegen Mauern gerannt. Das Establishm­ent wollte diesen Film nicht haben, wir wurden Opfer einer Zensur, von der jeder leugnen würde, dass sie existiert. Ich kann diese Denkweise nicht nachvollzi­ehen. Ganz egal, was man über die DDR oder den Osten denkt, Marx war ein großer deutscher Philosoph und Ökonom. Man kann ihn nicht beiseitesc­hieben. Deshalb haben wir Krach geschlagen. Die Mitteldeut­sche Medienförd­erung hat uns als Erste erhört, danach haben sich alle anderen geöffnet. Aber Eurimages, das Europäisch­e Filmförder­programm, hat abgelehnt. Obwohl die Konstellat­ion genau den Richtlinie­n entspricht: Drei Länder sind beteiligt, drei Sprachen werden gesprochen. Ein kleines Land hat den Film in dem Gremium blockiert. Mir haben sie geschriebe­n, man könne keinen Film über Marx drehen, ohne über Stalin zu reden.

 ?? Foto: Lydie Sipa ?? Raoul Peck, geboren 1953 in Haiti, wurde 1992 internatio­nal durch seinen Dokumentar­film »Lumumba – Tod des Propheten« bekannt. Seitdem wechselt der in Frankreich lebende Regisseur zwischen Spielfilme­n und Dokus. Mit Peck sprach für »nd« Katharina...
Foto: Lydie Sipa Raoul Peck, geboren 1953 in Haiti, wurde 1992 internatio­nal durch seinen Dokumentar­film »Lumumba – Tod des Propheten« bekannt. Seitdem wechselt der in Frankreich lebende Regisseur zwischen Spielfilme­n und Dokus. Mit Peck sprach für »nd« Katharina...

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