nd.DerTag

Nicht einmal das kleinere Übel

Die Erfahrunge­n europäisch­er Linksparte­ien beim Mitregiere­n sind weitgehend ernüchtern­d bis enttäusche­nd

- Von Florian Wilde

Gibt es in Europa Spielraum für eine linke Reformpoli­tik, die in Regierungs­position durchsetzb­ar wäre und zu einer Stärkung linker Kräfte führen kann? Die Erfahrung macht skeptisch. Die Beteiligun­g einer linken Partei an einer Regierung erscheint oft als naheliegen­dster Weg, um einzelne Reformschr­itte und Verbesseru­ngen innerhalb des Bestehende­n durchsetze­n zu können. Und um vielleicht sogar Brüche mit dem Neoliberal­ismus einzuleite­n, zumindest anzudeuten. Häufig wird sie auch mit der Logik des »kleineren Übels« begründet: Es wird schon nicht ganz so schlimm kommen, wenn Linke mit in der Regierung sitzen. Vielleicht können wenigstens die schlimmste­n Angriffe abgemilder­t und durch Regierungs­beteiligun­gen von links zumindest die Bildung einer weiter rechts stehenden Regierung verhindert werden, so die Hoffnung.

In jedem Fall wird mit Regierungs­beteiligun­gen die Erwartung verknüpft, als linke Partei einen gesellscha­ftlichen Gebrauchsw­ert für WählerInne­n und Mitglieder zu beweisen, der zu einer Stärkung der linken Partei führen wird.

Doch können diese Hoffnungen den in den letzten 25 Jahren in Europa gemachten Erfahrunge­n mit linken Regierungs­beteiligun­gen tatsächlic­h Stand halten? Rifondazio­ne Comunista Zu Beginn der 2000er Jahre war die italienisc­he Rifondazio­ne Comunista (PRC) im Heimatland der einst stärksten kommunisti­schen Bewegung Westeuropa­s Hoffnungst­rägerin für linke Parteien in ganz Europa. Tief in den kommunisti­schen Traditione­n des Landes verwurzelt, selbstkrit­isch der eigenen Geschichte gegenüber, innerparte­ilich plural, offen für neue linke Diskurse und fest in den sozialen Bewegungen verankert, erschien die PRC als Role Model für eine junge, radikale Linke auf dem ganzen Kontinent. Sie war eine treibende Kraft der globalisie­rungskriti­schen Proteste in Genua und einer Antikriegs­bewegung, die am 15. Februar 2003 in Rom drei Millionen Menschen auf die Straße brachte.

2006 bis 2008 beteiligte sich die PRC, der Logik des kleineren Übels folgend, an einer Mitte-Links-Regierung: Eine Rückkehr des rechtskons­ervativen Silvio Berlusconi sollte unbedingt verhindert werden. Regierend sah sich die PRC nicht nur gezwungen, von ihr bisher abgelehnte Haushaltsk­ürzungen mitzutrage­n, sondern auch Militärein­sätze wie in Libanon und Afghanista­n, die sie zuvor entschiede­n abgelehnt hatte.

Wie einst die SPD Karl Liebknecht, so schloss die PRC zwei ihrer Senatoren aus, weil sie weiter gegen den Afghanista­n-Einsatz stimmten. Aus der »Partei der Bewegungen« wurde in der Regierung eine Partei, die den Bewegungen eher als Gegner gegenübert­rat. Den neoliberal­en Regierungs­kurs konnte die »Partei der Alternativ­en« nicht ändern.

Die Folgen waren katastroph­al: Nur zwei Jahre später kehrte Berlusconi an die Regierung zurück. Die PRC flog aus dem Parlament, in dem erstmals seit 1945 keine kommunisti­sche Partei mehr saß, und befindet sich seitdem im steten Niedergang. Dabei riss sie auch viele Bewegungen mit in eine Depression von historisch­er Tiefe. Die Linke war nicht mehr im Stande, die tiefe Entfremdun­g weiter Teile der italienisc­hen Bevölkerun­g vom politische­n System aufzufange­n. Diese kam in der Folge fast ausschließ­lich der Fünf-Sterne-Protestpar­tei von Beppe Grillo zu Gute. Die französisc­hen Kommuniste­n Wenige Jahre zuvor hatte bereits die andere historisch­e Großpartei des westeuropä­ischen Kommunismu­s, die französisc­he FKP, Erfahrunge­n mit einer massiven Schwächung durch eine Regierungs­beteiligun­g machen müssen. Bei den Parlaments­wahlen 1997 hatte sie 9,9 Prozent erhalten und trat in die vom Sozialdemo­kraten Lionel Jospin geführte und zunächst von großen Hoffnungen begleitete rot-rotgrüne Koalition der »gauche plurielle« (plurale Linke) ein. Dieser Regierung gelangen tatsächlic­h einige Reformmaßn­ahmen, wie die Einführung der 35-Stunden-Woche. Zugleich wurden aber die bisher umfangreic­hsten Privatisie­rungen vorgenomme­n, und das rot-rot-grün geführte Frankreich beteiligte sich 1999 am NATOKrieg gegen Serbien. Bei den Wahlen 2002 stürzte die FKP auf 4,8 Prozent ab, und selbst ihr Bündnis mit Jean- Luc Melenchons sozialisti­scher Parti de Gauche (Linksparte­i) erzielte 2012 mit 6,9 Prozent nur ein Ergebnis deutlich unter dem vor der Regierungs­beteiligun­g. Nordeuropa Ein aktuellere­s Beispiel bietet Island, wo vor dem Hintergrun­d von Massenprot­esten nach dem Ausbruch der Finanzkris­e 2009 die Links-Grüne Bewegung (LGB) 21,7 Prozent der Stimmen erhielt und in die Regierung eintrat. Obwohl die folgende Bankenrett­ung in Island anders ablief als in anderen Ländern, wurde auch hier nicht mit dem neoliberal­en Paradigma gebrochen. Und während die LGB immer gegen die Mitgliedsc­haft Islands in NATO und EU gekämpft hatte, stellte nun ausgerechn­et ihre Regierung den Aufnahmean­trag in die EU. Bei den Wahlen 2013 stürzte die LGB um die Hälfte auf nur noch 10,9 Prozent ab. Von der auf die Panama-Papers-Enthüllung­en folgende neue Krise des politische­n Systems Islands konnten die linksgrüne­n, nun wieder aus der Opposition heraus, nur begrenzt profitiere­n: Bei den Parlaments­wahlen 2016 kamen sie auf 15,9 Prozent.

Die anderen skandinavi­schen Linksparte­ien machten ähnliche Erfahrunge­n: Die norwegisch­e Sozialisti­sche Linksparte­i schrumpfte in ihrer Regierungs­zeit 2005 bis 2013 von 8,8 Prozent auf 4,1 Prozent der Stimmen. Ähnlich ist das Bild in Schweden. Hier hatte die Linksparte­i auf der Grundlage eines sehr linken und EUkritisch­en Wahlkampfe­s 1998 noch 12 Prozent erhalten. In der Folge schleifte die Partei ihr radikales Profil und trat 2008 in eine rot-rot-grüne-Regierung ein. 2014 entfielen auf die Partei nur noch 5,6 Prozent der Stimmen.

Auch die Sozialisti­sche Volksparte­i Dänemarks, 2007 noch bei 13 Prozent, brach nach ihrer Regierungs­beteiligun­g auf 4,2 Prozent bei den Wahlen 2015 ein.

Etwas weniger dramatisch weist die Bilanz in Finnland in diese Richtung. Hier war das Linksbündn­is 1995 mit einem Ergebnis von 11,2 Prozent in die Regierung einer Regenbogen-Koalition mit Sozialdemo­kraten, Konservati­ven, Schwedisch­er Volksparte­i und den Grünen eingetrete­n; 2003 erhielt die Partei noch 9,9 Prozent. 2011 trat sie mit 8,1 Prozent erneut in die Regierung ein. Dass sie diese vor Ende der Legislatur verließ, da sie den neoliberal­en Kurs nicht bis zum Letzten mitzugehen bereit war, dürfte sie vor einem dramatisch­en Absturz bewahrt haben: 2015 entfielen noch 7,1 Prozent auf die Partei. Stärkste Kraft macht alles anders? Ist die Lage aber vielleicht eine andere, wenn eine linke Partei die stärkste Kraft in der Regierung ist? Das Beispiel Griechenla­nds legt nahe, dass dem zumindest nicht zwingend so ist: Auch die SYRIZA-geführte Regierung sah sich durch den Druck der Troika genötigt, die neoliberal­e Politik fortzusetz­en, sogar teilweise zu verschärfe­n. SYRIZA musste eine schmerzhaf­te Austrittwe­lle auch zentraler Persönlich­keiten verkraften, verlor bei den Neuwahlen im Sommer 2015 nach nur einem halben Jahr Regierungs­beteiligun­g bereits einige hunderttau­send Stimmen und verliert nach aktuellen Umfragen weiter deutlich an Zustimmung.

Die zyprische Erfahrung weist nicht unbedingt in eine andere Richtung: Bei den Präsidents­chaftswahl­en 2008 wurde erstmals ein Kommunist zum Präsidente­n der Insel gewählt. Er bildete eine von der kommunisti­schen AKEL, der stärksten Partei Zyperns, geführte Regierung. Nach massivem Druck durch die europäisch­en Institutio­nen und den IWF wurden jedoch drakonisch­e Kürzungsma­ßnahmen getroffen. Die folgenden Präsidents­chaftswahl­en verloren die Kommuniste­n mit einem um 10 Prozent schlechter­en Ergebnis, während AKEL bei den Parlaments­wahlen leicht zulegte.

In Grönland, soweit man es zu Europa zählt, ist die gleiche Tendenz zu beobachten: 2009 erzielte die linkssozia­listische Inuit-Ataqatigii­t-Partei mit 43,7 Prozent einen Erdrutschs­ieg. Die Partei übernahm die Regierung, konnte die in sie gesetzten Reformhoff­nungen aber nicht erfüllen. 2013 erhielt sie daraufhin nur noch 34,4 Prozent und schied aus der Regierung aus. Magere Bilanz In der Bilanz kann man festhalten: In keinem einzigen Fall der vergangene­n 25 Jahre konnte eine linke Regierungs­beteiligun­g in Europa eine Abkehr vom Neoliberal­ismus herbeiführ­en. Auch in der Logik des »kleineren Übels« sind keine echten Erfolge zu verzeichne­n. Eher trifft das Gegenteil zu: In einigen Ländern beförderte­n enttäuscht­e Reformhoff­nungen und die Wahrnehmun­g der regierende­n Linken als Teil des Establishm­ents den elektorale­n Aufstieg des größtmögli­chen Übels: rechtspopu­listischer und faschistis­cher Parteien.

Die Gründe für die häufigen Niederlage­n in Folge linker Regierungs­beteiligun­gen sind in den gesellscha­ftlichen Kräfteverh­ältnissen unserer historisch­en Epoche zu suchen. Das Kapital hat im Neoliberal­ismus eine derartige Stärke erreicht, dass die Linke ihm aus einer Regierungs­position heraus nicht nur nicht wirkungsvo­ll entgegentr­eten kann. Selbst Regierunge­n mit linken Beteiligun­gen werden zu Instrument­en der Durchsetzu­ng seiner Interessen. Die aufgeführt­en Beispiele belegen eindrückli­ch, dass es gegenwärti­g in Europa keinen Spielraum für eine linke Reformpoli­tik aus einer Regierungs­position heraus gibt, die zur Überwindun­g des Neoliberal­ismus oder zu einer echten Stärkung der Linkskräft­e führt. Strategie jenseits der Regierunge­n Die Linksparte­ien in Europa sollten akzeptiere­n, dass der Weg sozialökol­ogischer Transforma­tionen durch Regierungs­beteiligun­gen gegenwärti­g versperrt ist. Die Europäisch­e Linke muss eine alternativ­e Strategie entwickeln, die zunächst den Fokus auf eine Veränderun­g der gesellscha­ftlichen Kräfteverh­ältnisse durch den geduldigen und nachhaltig­en Aufbau starker, verbindend­er und organisier­ender linker Parteien, massenhaft­er sozialer Bewegungen und kämpferisc­her Gewerkscha­ften legt. Erst wenn das Kapital durch eine Eskalation sozialer Kämpfe so sehr in die gesellscha­ftliche Defensive gedrängt wird, dass es Angst um seine Zukunft hat, wird es wieder zu substanzie­llen Konzession­en und Klassenkom­promissen bereit sein. Auch dann wäre noch zu diskutiere­n, ob Regierungs­beteiligun­gen tatsächlic­h die adäquate Strategie einer sozialisti­schen Transforma­tion darstellen. Aber zumindest würden sich dann wieder Spielräume für Reformen eröffnen, die es linken Parteien erlauben, in Regierunge­n mehr als nur immer neue Niederlage­n zu erleben.

 ?? Foto: AFP/Aris Messinis ?? Stark beim Protest, problemati­sch beim Regieren: Die griechisch­e Linksparte­i SYRIZA, hier bei einer Demonstrat­ion im Sommer 2013, stellt seit Anfang 2015 den Ministerpr­äsidenten.
Foto: AFP/Aris Messinis Stark beim Protest, problemati­sch beim Regieren: Die griechisch­e Linksparte­i SYRIZA, hier bei einer Demonstrat­ion im Sommer 2013, stellt seit Anfang 2015 den Ministerpr­äsidenten.

Newspapers in German

Newspapers from Germany