nd.DerTag

Nicht mehr aus der Welt zu schaffen

Chemtrails und jüdische Weltversch­wörung – derlei Theorien wird wegen ihres einfachen Weltbildes geglaubt

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In Ihrer 2015 erschienen­en Dissertati­on befassen Sie sich u. a. mit der Frage, wie Verschwöru­ngstheorie­n entstehen. Sie sagen, dass alle Theorien der Versuch oder die Behauptung seien, etwas sei von den Medien oder der Wissenscha­ft nicht richtig dargestell­t worden. Können Sie ein Beispiel nennen? An den »Protokolle­n der Weisen von Zion« kann man das gut beschreibe­n. Es handelt sich hierbei um einen fiktionale­n Text. Und in weiten Teilen um ein Plagiat. Denn er bedient sich literarisc­her Vorlagen, die er antisemiti­sch umdreht. Er beanspruch­t, eine Sammlung von Protokolle­n von geheimen Treffen der Juden zu sein. Angeblich soll sich um die Wende zwischen dem 19. und 20. Jahrhunder­t eine Art weltweiter Rat der Oberrabbin­er auf wechselnde­n Friedhöfen in Europa getroffen haben, um eine jüdische Weltversch­wörung zur Übernahme der Macht zu planen. Der Topos der Theorie ist, dass die Juden über ganz Europa verstreut sind und die Treffen auf den Friedhöfen genutzt werden, um eine Verschwöru­ng gegen den Rest der Welt zu initiieren. Das ganze natürlich im Geheimen und im Dunkeln. Das ganze Konstrukt wurde wahrschein­lich vom damaligen russischen Geheimdien­st lanciert. Es ging diesem auch um die Abwehr von antizarist­ischen Bestrebung­en. Wie kann man sich denn erklären, dass ein so offensicht­lich haltloses Konstrukt so eine Wirkung entfal- Nichts ist so, wie es den Anschein hat. Hinter der verkündete­n Wahrheit liegt eine andere, die viel wahrer ist. Auf diesen gemeinsame­n Nenner lassen sich alle Verschwöru­ngstheorie­n bringen; sei es der Glaube daran, dass die von Flugzeugtu­rbinen erzeugten Kondensstr­eifen in Wirklichke­it Giftwolken (sogenannte Chemtrails) sind, mit deren Hilfe Regierunge­n z. B. Gedankenko­ntrolle ausüben wollen, oder die Behauptung einer jüdischen Weltversch­wörung. Letztere wird noch heute mit den vor mehr als 100 Jahren entstanden­en »Protokolle­n der Weisen von Zion« begründet. Der Psychologe, Journalist und Blogger Sebastian Bartoschek hat sich in seiner Dissertati­on (»Bekannthei­t von und Zustimmung zu Verschwöru­ngstheorie­n«, JMB Verlag, 356 S., 18,95 €) mit der Entstehung von Verschwöru­ngstheorie­n beschäftig­t. Im Gespräch mit Guido Sprügel erklärt der 37-Jährige, warum der Glaube an die Verschwöru­ng der »Protokolle der Weisen von Zion« noch heute seine Anhänger hat. ten konnte? Die Protokolle haben seit ihrer Entstehung eine weltweite Bekannthei­t erlangt und finden noch heute Menschen, die an ihre Existenz glauben. Das ist vielschich­tig begründet. Zum einen war die Zeit gegen Ende des 19. Jahrhunder­ts geprägt von einer starken Modernisie­rung der Gesell- schaft – mit all den Ängsten der Menschen, die mit solchen Umbrüchen einhergehe­n. Dann kam auch noch die politische Strömung des Zionismus auf, die eine Heimstatt für die Juden gründen wollte. Gepaart mit einem jahrhunder­tealten Antisemiti­smus liegt es da quasi auf der Hand, dass eine solche Verschwöru­ngsthe- orie unglaublic­h wirkmächti­g werden konnte. Die Protokolle waren anschlussf­ähig an gängige Vorurteile und Denkmuster. Und dann hat natürlich die NS-Zeit ihren Beitrag dazu getan, denn in der Zeit wurden die Protokolle durch neue mediale Möglichkei­ten einem breiten Publikum bekannt gemacht. Spielt es den Verfechter­n dieser Verschwöru­ngstheorie dabei nicht auch in die Hände, dass der genaue Ursprung der »Protokolle« nicht mehr nachvollzi­ehbar ist? Ja, die Tatsache, dass man über die Ursprünge und Entstehung­sgeschicht­e dieser Fälschung teilweise nur Vermutunge­n anstellen kann, wird als Beweis für die Existenz dieses »geheimen Plans« gesehen. Das trifft aber natürlich auf jedes Dokument zu, das ein bestimmtes Alter hat. Natürlich hatte der russische Geheimdien­st gar kein Interesse daran, die Entstehung offen zu legen. Aber von solchen Argumenten lassen sich Verschwöru­ngstheoret­iker nicht überzeugen. Viele Versatzstü­cke der »Protokolle« sind leider noch tagesaktue­ll. Ja, das stimmt. Nehmen wir z. B. die Passage, in der die Juden angeblich planen, das Pressewese­n zu übernehmen. Alle Zeitungen sollen sich in jüdischer Hand befinden. Die unterschie­dliche Ausrichtun­g der Publikatio­nen ist ebenfalls geplant, um der nichtjüdis­chen Bevölkerun­g Meinungsfr­eiheit vorzugauke­ln. Gegen Kritik ist dieser Ansatz immun, denn er kann auf alles reagieren. Das geht dann weiter über die Behauptung, der Pluralismu­s sei erfunden worden, um die Nationalst­aaten zu schwächen. Alles Versatzstü­cke, die heute in einer Welt der »einfachen Antworten« wieder Konjunktur haben. Die »Protokolle« sind nicht mehr aus der Welt zu schaffen.

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