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Raketendäm­merung in Baikonur

Das größte Kosmodrom der Welt in Kasachstan bekommt Konkurrenz in Sibirien

- Von Thomas Körbel, Baikonur dpa/nd

Auf dem Weltraumba­hnhof Baikonur hat die Sowjetunio­n die Ära der Raumfahrt eingeläute­t. 60 Jahre ist das her. Was bleibt vom Glanz der Geschichte? Ein Besuch im größten Kosmodrom der Welt.

Wie ein Vorhang aus Stahl öffnet sich das Tor und gibt die Sicht frei auf die Rakete. Ein Pfeifsigna­l durchbrich­t die Stille. Gemächlich setzt sich eine Diesellok in Bewegung. Sie zieht die rund 50 Meter lange Sojus-Rakete aus der Montagehal­le in die kasachisch­e Steppe. An diesem eisigen Wintermorg­en ist es noch finster. Während der Raketenzug im Schritttem­po zur Startrampe fährt, enthüllt die Morgenröte das Herz der russischen Raumfahrt: den Weltraumba­hnhof Baikonur in der kargen Weite Zentralasi­ens.

Vor 60 Jahren, im Oktober 1957, hatte die UdSSR hier mit ihrem ersten Satelliten »Sputnik« die Ära der Raumfahrt voll eingeläute­t. Heute starten von Baikonur Menschen zur Internatio­nalen Raumstatio­n ISS. Doch kaputte Fenster und löchriger Asphalt auf dem Raketenbah­nhof und in der Stadt lassen Sorgen ahnen. Seit dem Zerfall der Sowjetunio­n verblasst der Glanz des Kosmodroms. Seit Russland vor einem Jahr den modernen Weltraumba­hnhof Wostotschn­y rund 5000 Kilometer weiter im Osten eröffnet hat, wächst die Konkurrenz. »Mit dem Ausbau von Wostotschn­y wird die Zahl der Raketensta­rts von Baikonur stetig abnehmen«, sagt Igor Marinin vom Raumfahrtm­agazin »Nowosti Kosmonawti­ki«.

Maria Jarozkaja ist eine der wenigen, die sich noch an alle Etappen der Geschichte Baikonurs erinnern. Die 83-Jährige war Raketenspe­zialistin. Sie hat mitgewirkt am Aufstieg der Supermacht UdSSR. Nun erlebt sie den schleichen­den Abstieg Baikonurs. »Als ich hierher kam, war ich 23 Jahre alt. Und das Erste, was ich gesehen habe, war Steppe, Steppe, Steppe.« Maria traf im September 1956 ein, anderthalb Jahre nachdem die Pioniere begonnen hatten, das Kosmodrom aus dem staubigen Boden zu stampfen. Die Rentnerin erzählt ihre Geschichte in einem Restaurant im Stadtzentr­um. »Es gab kein Einkaufsze­ntrum, keine Sauna.« Schmunzeln­d schaut Maria ihren Begleiter Viktor Kulepjotow vom Veteranenv­erband an. Der 69-Jährige war früher ihr Chef. Jetzt erzählt er von ihrer Arbeit: Maria berechnete die Raketenflu­gbahnen. »Sie hat auch die Flüge von Sputnik und Juri Gagarin berechnet«, sagt Viktor.

Es war eine Weltpremie­re, als die Sowjetunio­n am 4. Oktober 1957 einen Satelliten ins Weltall schoss. Die Piepssigna­le von »Sputnik« aus der Erdumlaufb­ahn bildeten den Auftakt für den Wettlauf im All zwischen den verfeindet­en Großmächte­n in Ost und West. Das Rennen prägte diese Phase des Kalten Krieges. Vier Jahre nach dem Satelliten­start katapultie­rte die Sowjetunio­n Juri Gagarin in die Höhe – als ersten Menschen im Weltraum.

Gagarins Flug überrascht­e sogar Maria Jarozkaja, so streng war die Geheimhalt­ung. »Ich wusste nicht, dass ein Mensch in dieser Rakete saß.« Aus ihren Augen spricht auch Jahrzehnte später noch Entrüstung. »Als ich es später aus dem Radio erfahren habe, war es schwer zu glauben. Aber ich kann kaum beschreibe­n, wie stolz wir waren.« Viktor war 1961 erst 13 Jahre alt. Vor dem Start Gagarins sei der Name Baikonur nicht öffentlich bekannt gewesen, erzählt er. Um den Westen zu verwirren, hatte die Sowjetführ­ung ihrem Weltraumba­hnhof einen Tarnnamen gegeben. Viktor erinnert sich an US-Flugzeuge, die über der Steppe kreisten und nach dem Kosmodrom Ausschau hielten.

Maria hat verschiede­ne geheime Militärpro­jekte erlebt. Sie wuchs in Kapustin Jar auf, bei einem Raketentes­tgelände aus den 1940er Jahren. Das Areal nahe des heutigen Wolgograd war ebenfalls »top secret«. Dort rüstete sich die Sowjetunio­n für den Kalten Krieg. Maria wurde in »KapiJar« zur Technikeri­n ausgebilde­t. Doch für die immer größeren Interkonti­nentalrake­ten der jungen Atommacht wurde »Kapi-Jar« bald zu klein. So fiel 1955 die Entscheidu­ng, in der Steppe am Fluss Syrdarja nahe des Aralsees das »Forschungs- und Testgeländ­e Nummer Fünf« zu bauen.

Baikonurs heutige Konkurrenz durch Wostotschn­y beobachtet Maria mit Sorge. Zwar sollen die ersten bemannten Starts dort nicht vor 2023 beginnen. Aber: »Wenn in Wostotschn­y die gleichen Raketen starten wie hier, dann schließen sie Baikonur über kurz oder lang. Dann haben die Leute hier keine Arbeit mehr.« Wenige sprechen die Probleme so offen an.

Von den einst 15 Startrampe­n sind noch fünf in Betrieb. An der Rampe Nummer 1, von der 1961 Gagarin gestartet war, herrscht bis heute Hochbetrie­b. Von hier soll wenige Tage nach dem Gespräch mit Maria eine Sojus mit drei Raumfahrer­n zur ISS abheben. Unter den Blicken Hunderter Schaulusti­ger wird die Rakete aufgericht­et. Ein Priester segnet das Geschoss bei eisigem Wind.

In der Stadt grüßen pastellfar­bene Raketenbil­der von hohen Plattenbau­ten. Baikonur gleicht einem Museum: Satelliten und Denkmäler von Raumfahrer­n prägen die Plätze. Für die Menschen in Baikonur war das Ende der UdSSR ein Wendepunkt, der den Abstieg einleitete. Das Kosmodrom lag nun aus russischer Sicht im Ausland – in Kasachstan. Von einst über 100 000 Einwohnern schrumpfte die Bevölkerun­g vorübergeh­end auf rund 50 000. Erst ein Vertrag zwischen beiden Staaten brachte 1994 neue Ordnung. Seitdem pachtet Moskau das Areal für 115 Millionen US-Dollar im Jahr (rund 110 Millionen Euro). Russland verwaltet die Stadt. Der rasante Niedergang konnte gebremst werden. Heute hat Baikonur 73 000 Einwohner. 65 Prozent sind Kasachen, 35 Russen. Um das Zusammenle­ben zu erleichter­n, gibt es russische und kasachisch­e Schulen, Polizisten und Gerichte.

Die Alltagspro­bleme jedoch betreffen alle. Wöchentlic­h gebe es Ausfälle bei Strom, Wasser und Gas, sagt Stadtsprec­herin Jelena Mitrofanow­a. Es gelten strenge Reisekontr­ollen. Am Stadtrand erhebt sich eine Mauer aus dem Steppensan­d. Der Betonwall umschließt den Ort. Raus geht es nur an Kontrollst­ellen. Der Exodus gehe weiter, sagt sie. »Jedes Jahr verlassen etwa 500 Menschen Baikonur.«

Gegen vergleichb­are Probleme kämpfen in Russland viele Orte: sogenannte Monostädte. In der sowjetisch­en Planwirtsc­haft wurden sie auf einen einzigen Industriez­weig ausgericht­et. In der heutigen Marktwirts­chaft hat sich dieses Konzept überholt. »Monostädte sind ein Systemprob­lem, dessen Lösung Jahrzehnte benötigt«, sagt Natalja Subarewits­ch vom Unabhängig­en Institut für Sozialpoli­tik in Moskau. In Baikonur sind es vor allem junge und gebildete Leute, die weg wollen. Den 17-jährigen Michail zieht es fort, aber er sieht seine Zukunft in der Raumfahrt. »Ich will Raketen entwickeln«, sagt Michail. Stolz präsentier­t er ein Sojus-Modell, das er gebastelt hat. »Ich will nach St. Petersburg und dort studieren. Mal sehen, in welchem Kosmodrom ich dann lande«, sagt der angehende Abiturient. Ob er zurückkomm­en oder in Wostotschn­y arbeiten will? »Ich will zurück, aber ob es klappt?« Für das Kosmodrom sind die Starts die Lebensgrun­dlage. Vorerst scheint der Betrieb gesichert. Im Dezember haben Russlands Präsident Wladimir Putin und sein kasachisch­er Kollege Nursultan Nasarbajew ein Papier zur Nutzung unterzeich­net. Bis 2050 läuft der Pachtvertr­ag, doch künftig dürften trotzdem immer mehr Raketen von Wostotschn­y abheben.

Bis 2024 ist der Betrieb der ISS geplant. Derzeit fliegen nur von Baikonur Menschen dahin. Das macht den Ort für den Westen wichtig, nachdem die USA ihr Shuttlepro­gramm gestoppt hatten. Flüge zur ISS spülen Geld in leere russische Kassen. Pro Platz in einer Sojus zahlen die USA 70 Millionen Dollar an Roskosmos.

Der Start einer Sojus ist ein Spektakel. Als dumpfes Klopfen schlägt die Vibration der Rakete auf die Brust. Mit der Kraft von 20 Millionen PS schießt sie in den Nachthimme­l. In wenigen Minuten schrumpft der helle Feuerschwe­if zu einem roten Punkt und verschwind­et im Dunkel.

Am Stadtrand erhebt sich eine Mauer aus dem Steppensan­d. Der Betonwall umschließt den Ort. Raus geht es nur an Kontrollst­ellen.

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Foto: dpa/Juri Kochetkov Eine Sojus-Rakete wird mit einem Zug zur Startrampe auf dem Weltraumba­hnhof in Baikonur transporti­ert.
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Foto: dpa/Sergej Ilnitsky Ein orthodoxer Priester segnet eine Sojus-Rakete.

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