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Keine Zukunft für Marco und Fulvio

In Italien liegt die Jugendarbe­itslosigke­it über 40 Prozent und steigt weiter

- Von Anna Maldini, Rom

Die miserable Lage des italienisc­hen Arbeitsmar­ktes trifft vor allem jüngere Menschen – ihre Zukunft erscheint prekär oder völlig hoffnungsl­os. Über 40 Prozent Jugendarbe­itslosigke­it in Italien – Tendenz steigend! Das sagt die Statistik. Das ist erschütter­nd. Noch erschütter­nder sind die Einzelschi­cksale, die hinter dieser Zahl stecken. Vor wenigen Tagen ging die Nachricht von einem Suizid durch die Presse: Der 30-jährige Michele aus dem wohlhabend­en Nordosten des Landes hat sich das Leben genommen und im Abschiedsb­rief seine soziale Situation als Ursache für diese extreme Handlung genannt.

Wie so viele junge ItalienerI­nnen hat auch Michele trotz einer guten Ausbildung nie einen festen Arbeitspla­tz bekommen und sich sein kurzes Leben lang von einem Minijob zum nächsten, von einer gering bezahlten Gelegenhei­tsarbeit zur nächsten befristete­n Arbeitsste­lle durchgesch­lagen. An eine eigenständ­ige Zukunft war nicht zu denken, alles ist prekär.

Vielleicht noch stärker als die Jugendlich­en bis 24 Jahre, sind die nächsten Altersgrup­pen von 25 bis 34 und von 35 bis 44 von der miserablen Lage auf dem italienisc­hen Arbeitsmar­kt betroffen. Die meisten Menschen in diesen Gruppen gehen zwar immer mal wieder einer bezahlten Arbeit nach, haben aber keine gesicherte Zukunft.

So zum Beispiel der 29-jährige Marco, der jetzt in einem kleinen Bauernhaus – kaum mehr als eine Gartenlaub­e – in Umbrien lebt und sich dort mehr oder weniger selbst versorgt. Gerade weil er gehofft hatte, so schneller auf eigenen Beinen stehen zu können, hat er nach dem Abitur nicht studiert, sondern die Hotelfachs­chule besucht. Zwei Jahre arbeitete er in einem Hotel in Rom, konnte sich aber von seinem Gehalt nie eine menschenwü­rdige Unterkunft leisten. So wohnte er weiter in seinem Elternhaus und fuhr jeden Tag zwei Stunden zur Arbeit und zwei wieder zurück. Das wurde bei seiner unregelmäß­igen Arbeitszei­t und den unzuverläs­sigen Pendlerzüg­en immer mehr zur Qual. Danach jobbte er noch einige Mal bei der Post oder als Urlaubsver­tretung in einer Pension.

Dieses Leben hielt er nicht mehr aus und zog irgendwann in die Laube seines verstorben­en Großvaters, wo er jetzt Zucchini und Tomaten an- baut und etwas Öl produziert. Würde seine Mutter ihn nicht unterstütz­en, könnte er möglicherw­eise schlicht verhungern. Marco hat resigniert, bewirbt sich kaum noch und vereinsamt.

Für Fulvio, der 38 Jahre alt ist, kommt Resignatio­n nicht in Frage. Er hat in Rom Politik studiert und ist seit Schülerzei­ten in ultralinke­n Gruppen aktiv. Jahrelang lebte er in besetzten Häusern, wodurch seine monatliche­n Ausgaben natürlich beachtlich gesenkt wurden.

Etwas »Besseres« hätte er sich aber auch nicht leisten können: Fulvio arbeitete als Kofferträg­er in einem Hotel, auf dem Großmarkt, als Kellner in einer Kneipe. Einige Jahre war er bei einer Umweltorga­nisation angestellt, wo er bis zu zehn Stunden täglich arbeitete, aber offiziell nur einen Halbtagsjo­b hatte, für den er 800 Euro monatlich bekam. Doch irgendwann musste die Organisati­on wegen Geldmangel schließen.

Derzeit wohnt Fulvio mit seiner Lebensgefä­hrtin und der fünfjährig­en Tochter in einer Sozialwohn­ung und arbeitet als Wärter im Kolosseum – sein Vertrag läuft noch bis Mai. Was dann wird, kann niemand sagen. Nicht nur er, sondern auch seine Eltern, die inzwischen in Rente sind, haben vielen schlaflose Nächte, wenn sie an die Zukunft des jungen Mannes und seiner Familie denken.

Mit seiner »ultraliber­alen« Arbeitsmar­ktpolitik hat der junge ehemalige Ministerpr­äsident Matteo Renzi die prekäre Situation seiner Altersgeno­ssen möglicherw­eise noch verschlech­tert. Scheinselb­stständigk­eit und endlose Ausbildung­sverträge mit geringer Bezahlung sind an der Tagesordnu­ng.

Häufig fragt man sich, wie lange ein Land, in dem ganze Generation­en keine stabile Zukunft haben, als Demokratie überleben kann. Wenige Tage nach dem Selbstmord von Michele stand auf einer Mauer in seinem Heimatort zu lesen: »Für Michele und unsere Generation ist die einzige Sicherheit der Hass und die einzige Garantie unsere Rache. Das Prekariat bringt uns um! Die Regierunge­n, die uns unser Glück stehlen, sind Mörder!«

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Nur eine Pause oder Probleme mit der Zukunft? Foto: imago/FredxdexNo­yellex/xGodong

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