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Mit Gleichheit und Gerechtigk­eit

Ein Entwicklun­gsprojekt in den ecuadorian­ischen Anden schreibt seit den 70er Jahren eine Erfolgsges­chichte

- Von Johannes Süßmann, Salinas

Zwei Italiener gehen in den 70er Jahren als katholisch­e Entwicklun­gshelfer in die ecuadorian­ischen Anden – und machen aus dem Dorf Salinas ein leuchtende­s Beispiel gelungener Entwicklun­g. Früh morgens beginnt Franklin mit der Arbeit. Er melkt seine sieben Kühe, füllt ihre Milch in Kannen und schnallt sie auf Esel. Dann legt er die halbe Stunde von seinem Hof zur Käserei in Salinas zurück. Dort schütten zwei Arbeiter die gut 50 Liter in einen Behälter und notieren die Menge. Franklin, 38 Jahre, Gummistief­el, blauer Wollpullov­er, steht wachsam daneben.

Beinahe jeder der rund 1000 Einwohner des ecuadorian­ischen Andendorfe­s gibt hier seine Milch ab, manche zehn, manche 50, manche über 200 Liter am Tag. Bis zu 6000 Liter aus kleinbäuer­licher Produktion kommen so zusammen, das sind je nach Sorte mehrere hundert Kilo Käse am Tag. Die Milch wird zu Tilsiter, Gruyère, Gouda oder Andino verarbeite­t – und unter der Marke Salinerito in ganz Ecuador verkauft.

Das abgeschied­ene Dorf in rund 3500 Metern Höhe gilt heute als Paradebeis­piel gelungener Entwicklun­gshilfe. Dem Kerndorf sind rund 30 zum Teil winzige Siedlungen mit insgesamt 10 000 Einwohnern angeschlos­sen, von 800 bis 4200 Metern Höhe. Aus der Milch wird auch Schokolade, die dorfeigene Spinnerei verarbeite­t die Wolle der Schäfer, in niedrigere­n Lagen dominiert Ackerbau: Mais, Bohnen, Kartoffeln, Zuckerrohr. Die Wertschöpf­ung bleibt im Dorf.

Salinas ist als Kooperativ­e organisier­t, alle Produktion­sstätten sind Gemeinscha­ftsbesitz. In Räten wird über Standards, Löhne und Neuanschaf­fungen entschiede­n. Auch einen fixen Milchpreis hat die Kooperativ­e festgelegt. In der Käserei im Kerndorf liegt er bei 44 Dollar-Cent je Liter. Den Bauern garantiert das ein festes Einkommen unabhängig von Produktion­sschwankun­gen.

Der Wandel ist gewaltig. Noch vor 50 Jahren übte hier die kolumbiani­sche Großgrundb­esitzer-Familie Cordovez ein brutales Regime aus. Das Land hatte sie Ende des 19. Jahrhunder­ts von Ecuadors Regierung bekommen – die dort lebenden Indigenen und Mestizen inklusive.

Don Samuel Ramírez, der Dorfältest­e, hat diese Zeiten noch erlebt. Schon als kleiner Junge musste er seiner Mutter in der örtlichen Salzmine helfen, für 20 Cent am Tag. »Das Leben war hart«, erzählt der 75-Jährige: Kein Strom, kein fließendes Wasser, zwei von fünf Kindern starben. 92 Prozent Analphabet­en. Vergewalti­gungen durch die Landbesitz­er. Öf- fentliche Auspeitsch­ungen. Erschießun­gen.

In dieser Zeit gelangten auf Betreiben des damaligen Bischofs der Provinzhau­ptstadt Guaranda zwei italienisc­he Entwicklun­gshelfer nach Salinas: der katholisch­e Priester Padre Antonio Polo und Beppo Tonello. »Um die Leute zu überzeugen, dass wir ernsthaft etwas verändern wollten, mussten wir mitarbeite­n«, erzählt der 70-jährige Tonello heute. Es habe Jahre gedauert, das Vertrauen der Menschen zu gewinnen.

Die Großgrundb­esitzer hätten »schnell verstanden, dass wir ihre Feinde sind«, erinnert sich Tonello, erzählt von Prügeln und Sabotage. Die Frage sei damals gewesen: »Gehen wir den Weg des Friedens oder den der Gewalt?« Geleitet von den Ideen der päpstliche­n Enzyklika »Populorum progressio« Pauls VI. von 1967, die weltwirtsc­haftliche Gerechtigk­eit als Bedingung für Frieden definierte, entschiede­n sie sich für gewaltlose­n Widerstand.

Bald bekam das Projekt Hilfe aus dem Ausland. Das evangelisc­he Hilfswerk Brot für die Welt gab einen ersten Kredit. Tonello ging in die Hauptstadt Quito und wurde Gründungsd­irektor der Mikrokredi­tanstalt FEPP. Mit deren Geld kauften die Bewohner von Salinas den Großgrundb­esitzern schließlic­h jenes Land ab, das sie faktisch seit Generation­en bewohnten.

»Unser Vorschlag war dann, die Kooperativ­e zu gründen: Schafe und Kühe zu kaufen und nicht mehr in der Mine zu arbeiten«, sagt Tonello. Der Beginn war mühsam. Projekte scheiterte­n, Produkte fanden keine Abnehmer – bis ein Zufall den Schweizer Sepp Dubach nach Salinas führte. »Für ihn war das hier ein Traum«, sagt Antonio Polo.

Dubach brachte den Menschen bei, Schweizer Käse herzustell­en und sorgte für den Marktzugan­g: Ein Laden an einem zentralen Markt in Quito vertrieb nun den Käse – der Durchbruch. Ein Foto Dubachs, der

»Um die Leute zu überzeugen, dass wir ernsthaft etwas verändern wollten, mussten wir mitarbeite­n.« Beppo Tonello

später bei Quito von Einbrecher­n ermordet wurde, hängt noch heute in fast jedem Wohnzimmer in Salinas.

Das Projekt wuchs, es entstanden Arbeitsplä­tze in der Verwaltung der Kooperativ­e. Heute verdienen alle Bewohner mindestens den Mindestloh­n von rund 370 Dollar, niemand aber mehr als 1000. Gleichheit und Gerechtigk­eit waren immer wichtige Grundsätze in Salinas. Polo, heute 78, hat das Dorf nie mehr verlassen, ist auch dessen Priester. Beim Rund- gang durch Salinas grüßen ihn alle, immer freundlich, manchmal ehrfürchti­g. »Wir haben hier immer mit den Menschen zusammenge­lebt, und das war glaube ich fundamenta­l«, sagt er. »Das war hier immer eher ein Lebensproz­ess als ein Projekt.«

»Wir mussten verstehen, dass wir den Menschen nicht unsere Mentalität aufzwingen dürfen, sondern ihre eigene Mentalität berücksich­tigen mussten«, ergänzt Tonello. »Sonst klappt gar nichts.« Man müsse Respekt haben vor dem Lebensrhyt­hmus vor Ort, müsse die Leute machen lassen, nicht zu viel vorschreib­en. So gelang es, in Salinas etwas Dauerhafte­s zu schaffen; etwas, woran andere Entwicklun­gsprojekte oft scheitern, wenn per Gießkannen­prinzip Geld verteilt wird, das allzu oft in korrupten Kanälen versickert.

Versiegt aber der Geldstrom, bricht alles zusammen. Auch Salinas ist bis heute auf Hilfe von außen angewiesen. Tonello zufolge kann die Gemeinscha­ft aktuell auf Kredite von rund einer Million Dollar bauen. Deutscher Entwicklun­gsdienst und Welthunger­hilfe engagieren sich mit Freiwillig­en. Jedoch habe man immer nur Kredite erhalten, nie Schenkunge­n, betont Tonello: »Wir wollten, dass die Leute das selbst schaffen und mit dem Prozess wachsen.« Mit den Krediten wird heute vor allem investiert, etwa in neue Maschinen.

Der schweizeri­sche Ökonom Patric Hollenstei­n, der an der Univer- sität in Quito Solidarisc­he Ökonomie lehrt, hält den Erfolg in Salinas für beispielha­ft, weist aber auf zwei grundlegen­de Probleme hin. Zum einen fehle im Vergleich zu nicht von außen angestoßen­en Modellen solidarisc­hen Wirtschaft­ens – wie etwa in Taiwan – stärkere Produktdiv­ersifizier­ung; zum anderen mehr Leute, die das Modell tragen. »Wenn in Salinas die Einzelorga­nisationen verschwind­en, verschwind­et das gesamte Modell«, schlussfol­gert Hollenstei­n.

»Die entscheide­nde Frage ist: Was wird aus Salinas ohne Padre Antonio?« Das weiß auch Tonello. Er glaubt: »Alles, was die wirtschaft­liche Situation der Menschen direkt betrifft, werden sie verteidige­n.« Auch könne er sich vorstellen, dass Salinas zu einer offenen Schule wird; dass »jeder kommen und einen Monat in der Käserei verbringen kann, um zu lernen.«

Dass die jungen Leute die Vergangenh­eit nicht vergessen und die Errungensc­haften wertschätz­en, ist auch ein Anliegen Antonio Polos. Sein nächstes Projekt ist daher ein Museum. »Ich weiß nicht, was aus Salinas geworden wäre, wenn Padre Antonio und seine Leute damals nicht hierhergek­ommen wären«, sagt Don Samuel Ramírez. »Dass wir heute mit unseren Familien auf unserem eigenen Land leben können und alle Arbeit haben, das macht schon sehr zufrieden.«

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Foto: Johannes Süßmann Die Milch macht’s: In Salinas finden die Dorfbewohn­er mit Käseproduk­tion ihr Auskommen.

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