Wenn Musikkritiker schießen
Der Wettbewerb der Berlinale hat am Wochenende mit Josef Haders »Wilde Maus« einen grotesken Höhepunkt erreicht. Am Montag wurde mit Thomas Arslans Vater-Sohn-Drama »Helle Nächte« der erste der drei deutschen Beiträge im Rennen um die Bären gezeigt, währe
Ein Mann fliegt aus der gewohnten Umlaufbahn. Er glaubt es erst nicht, versucht es zu vergessen, aber es gärt in ihm. Die Aggressionen wuchern wie Metastasen. Und dann wird er fast zum Mörder und zum Terroristen. Und es scheint nicht außergewöhnlich, sondern ganz alltäglich.
Josef Hader ist Georg, ein arroganter Musikkritiker alten Schlags bei einer großen Wiener Zeitung. Das erste Gespräch mit einer jungen Kollegin zeigt, wie es um ihn bestellt ist – wie es um diese Gesellschaft bestellt ist. Ob er schon gehört habe, dass ein Motiv von Anton Bruckner in einer Popsong-Bearbeitung zu einer Fußballhymne geworden sei, fragt sie ihn – und: Sei das nicht wundervoll, die Begegnung zweier kultureller Sphären? Kritiker Georg schaut sie an, wie man die Pubertäts-Pickel von Achtzehnjährigen anschaut: mit dem halben Blick des solchen Unreifezuständen längst Entwachsenen, halb verächtlich, halb angewidert. »Grauenhaft«, sagt er bloß. Aber er hat keine Zeit, mit ihr hier seine Zeit zu vertun, er muss zum Chef.
Und da sitzt dann Kritiker Georg, Hüter der Wiener Hochkultur, von seinem blass-smarten Chef (das subalterne Prinzip ausreizend: Jörg Hartmann). Er wisse doch, die Zeiten seien schlecht und werde wohl einsehen, dass er nicht statt seiner drei junge Kollegen entlassen könne. Klingt auf wahnsinnige Weise logisch. Und wollte er nicht mal ein Buch schreiben? So banal ist das, wenn man irgendwo rausfliegt, wo man sich für unabkömmlich hielt. »Es wird massive Leserproteste geben!«, weiß Georg noch zu drohen. Der Musikkritiker in ihm hört aus seinen eigenen Worten den hohlen Klang der Phrase heraus. Der smarte Chef lächelt noch smarter: Seine Leser? Die seien größtenteils doch schon tot.
So beginnt »Wilde Maus« – so abgrundböse, so komisch-realistisch, dass man zugleich weinen und lachen möchte. Es ist, man glaubt es kaum, des Mittfünfzigers Josef Haders Regiedebüt. Soeben sahen wir ihn noch festgezurrt im literaturgeschichtlichen Korsett als Stefan Zweig in Maria Schraders Film – in dieser Rolle ähnelte er irgendwie einem ausgestopften tropischen Vogel. In »Wilde Maus« macht er es nun wie Woody Allen und schreibt das Drehbuch, führt Regie, spielt auch die Hauptrolle.
Für diese Rolle in »Wilde Maus« hat er mit seinem furiosen Ein-Mann-Kabarett-Abenden »Hader privat« mehr als zwanzig Jahre lang hart trainiert. Immer geht es dabei um den Schrecken eines ganz normalen Lebens, die Schläge des Schicksals, die niemand sieht, die aber umso stärker schmer- zen. Alltag ist die Hölle, an die man sich irgendwie gewöhnt hat. Ein Buch schreiben, das könne er sich schon vorstellen: »Die Entwicklung des Orchesterklangs vom Barock bis in die Gegenwart«. Nur wer von den Smartphone-Abhängigen soll das dann lesen? Der Film klingt nach Abgesang – aber die energische Pointe, die dann kommt, ist überraschend neu.
In den letzten Jahren ist Hader als Schauspieler sehr erfolgreich gewesen (»Der Knochenmann«), doch scheint mir »Wilde Maus« wieder an die frühen Filme »Indien« von Paul Harather und »Komm süßer Tod« von Manfred Murnberger anzuknüpfen. Keine Filme mit spektakulär ausgedachten »Plots« – sondern konsequent erzählte Geschichten über die Absurditäten des Normalen, über normale Leute, solche also, die im bunt lackierten Alltagsgrau nie eine Chance haben, und wenn sie das doch einmal glauben, dann war es bloß wieder nur ein Verkaufstrick des Schicksals.
Was passiert, wenn ein Mann wie Georg, der sich für unersetzbar hielt, weil er in seinem Beruf gut, wenn nicht sogar der beste war, plötzlich auf die Straße fliegt? Unvorhersehbare Dinge, so will man hoffen. Anfangs ist Georg im Prater Dauerkunde von »Hau den Lukas!«. Es gibt wunderbare bizarre Szenen, wie er versucht, seine Aggressionen in die üblichen Kanäle zu lenken. Als das nicht hilft, geht er mit seiner Einsamkeit spazieren, so wie andere ältere Herren in den besten Jahren auch, die sämtlich die Tatsache verdrängen müssen, dass sie niemand mehr braucht.
Seine deutlich jüngere Frau will unbedingt ein Kind, sie probieren es schon zu lange so verbissen, wie man eben letzte Chancen nutzt, bislang vergeblich – und heimlich ist Georg jetzt froh darüber. Jetzt, wo doch alles vorbei ist für ihn. Seiner Frau sagt er nichts von seinem Rausschmiss, statt dessen ist er jetzt heimlich Teilhaber einer Achterbahn namens »Wilde Maus« im Prater geworden – da darf dann aber nur klassische Musik gespielt werden und er selbst verteilt im historischen Kostüm die Flyer.
Als er dann doch einmal wieder – ich bin hier bloß privat! – ins Konzert geht, trifft er dort seine junge Kollegin, selbige, die die Symbiose von Bruckner und Fußball für einen Fortschritt hielt. Jetzt schreibt sie statt seiner die Konzertkritik und meint, die gerade gehörte Musik sei doch ganz »nett« gewesen. Nein, sagt Georg, nicht »nett«. Und morgen solle sie auch noch zum ersten Mal über Oper schreiben, die »Zauberflöte«! – »Keine Oper, ein Singspiel«, korrigiert Georg, vor Wut fast implodierend. Wie soll er da seine Aggressionen noch länger unterdrücken? Und warum eigentlich? Was ist bloß los mit dieser Welt, in der alles so billig, schäbig und dumm wird?
Hader ist großartig in seinem ersten eigenen Film – als Autor, Regisseur und Schauspieler. Er trägt eine Bitterkeit mit sich, der man nicht müde wird zuzusehen. Sein Kritiker Georg steht für nicht wenige, die lange als Kulturträger galten und nun plötzlich als überflüssige Kostenfaktoren entsorgt werden. Melancholie legt sich wie Mehltau über diese letz- ten vergessenen Bildungsbürger, jene vor kurzem noch ebenso heftig wie verlogen von den Großverkäufern aller Art umworbene »Mitte der Gesellschaft«, der man sich im Zweifelsfalle dann als erstes entledigt.
Die Absteiger von heute aber sind die Partisanen von morgen – und sie werden sich bitter an denen rächen, die sie für die Schuldigen an ihrem Elend halten. So drohend kann man Hader durchaus verstehen und nicht jedem wird diese Botschaft gefallen.
Zuerst muss das Auto seines vormaligen Chefs, dieses opportunistischen Aufsteigers, dran glauben. So viele Kratzer gab es nie! Dann zerschneidet er das Verdeck, sprayt auf seine Hauswand, setzt einen bösartig aussehenden Fisch in seinem Swimmingpool aus – wenn Leute wie Georg erst einmal anfangen, sich zu rächen, wird es furchtbar, denn es sind die letzten Exemplare in dieser Gesellschaft, die ein Übermaß an Phantasie besitzen, die sie nun als Waffe einsetzen gegen einen trostlosen Zeitgeist und deren Händler. Ist das etwa die neue Utopie?
Schließlich kauft sich Georg eine Pistole und weiß natürlich auch, wen er damit besuchen wird. Niemand ist gefährlicher als für harmlos und überflüssig befundene Musikkritiker? Doch es ist mehr als eine Rachephantasie, die Hader hier ausmalt, so hinreißend tempo- und rhythmussicher, von grotesk bis zu absurd, von hilflos bis selbstrettend! Hader zeigt den Zusammenbruch einer Biographie, aus deren Ruinen er dann umgehend beginnt, etwas Neues zu bauen – auf eruptive Weise unfertig, aber eben längst noch nicht am Ende.
Die Absteiger von heute sind die Partisanen von morgen – und ihre Rache wird bitter sein.