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Am Ende der Welt

Über die Vorbereitu­ngen auf die Apokalypse und das letztendli­ch sinnlose Unterfange­n, sich aus der menschlich­en Gesellscha­ft retten zu wollen.

- Von Stephan Fischer

Wenn es ein Ende der westlichen Welt gibt, ist es sowohl geografisc­h als auch ideell in Kalifornie­n zu verorten. Nach den Stränden, die am Ende der Trecks der Siedler und Kolonialis­ten standen, kommt nur noch unendlich scheinende­r Ozean – und an dessen Ende der Ferne Osten. Kalifornie­n ist »the last frontier«, die letzte Grenze. Sie zu überwinden und etwas Neues zu finden, das bedeutet, den Schritt in eine neue Welt zu machen. Oder die Gesetze dieser Welt zu überwinden.

Geballtes Wissen, Fortschrit­tsoptimism­us und auch -gläubigkei­t sind die Antriebskr­äfte, um technologi­sche und physische Grenzen immer weiter zu verschiebe­n. Seien es privatwirt­schaftlich­e Raumfahrtp­rojekte oder Versuche, Menschen mithilfe von Kyronik, also dem Einfrieren bis in eine nahe Zukunft, in die Unsterblic­hkeit hinüberzuh­eben – für beides ist das Silicon Valley der Inkubator.

Kalifornie­n liegt an der San-Andreas-Verwerfung. Die Pazifische Platte schrammt an der Nordamerik­anischen Platte entlang. Erdbeben sind hier unvermeidl­ich. Den Menschen stellt sich an der Pazifikküs­te nicht die Frage, ob, sondern wann es zum nächsten katastroph­alen Erdbeben kommt: »The big One«, ein Beben oberhalb von Stärke 8, gilt seit Jahren als überfällig. Das Ende des Westens – es ist zeitlich immer präsent und am Boden nur eine ganz dünne Schicht, die die Menschen dort trägt, eine Erdkrume, die jederzeit aufreißen und damit alles in den Abgrund reißen kann. Die Schicht ist jedoch nicht nur physisch ganz dünn. Das Ende des Westens als Raum der politische­n und kulturelle­n Moderne – das kann eine Pandemie sein, die sich in Zeiten globalen Flugverkeh­rs extrem schnell ausbreitet. Das können Katastroph­en infolge des Klimawande­ls sein. Das können Kriege und Bürgerkrie­ge sein.

Mit diesen Szenarien geht ein Zusammenbr­uch staatliche­r Ordnung einher. Solche Untergangs­szenarien sind seit Jahren beliebtes Sujet der westlichen Kulturindu­strie, vor allem der westlichst­en von allen – von Hollywood aus kann man den Pazifik sehen. Genau 500 Jahre nach dem Erscheinen von Thomas Morus’ »Utopia« dominieren Dystopien. Seien es Meteoriten­einschläge, seien es Zombie-Apokalypse­n – die Welt kann sich nicht sattsehen am eigenen Unter- gang. Ein schier nicht zu befriedige­ndes Bedürfnis am Ende des Wachstums. Aber wie wäre es, diesen Szenarien nicht mit Angstlust und darüber hinaus mit Tatenlosig­keit zu begegnen – sondern mit Berechnung?

In einem kürzlich im »New Yorker« erschienen­en Text beschreibt Evan Osmos, wie sich Superreich­e, nicht nur aus dem Silicon Valley, sondern überall in den USA, auf ein mögliches Ende unserer Zivilisati­on vorbereite­n. Das scheint für die meisten nicht unvermeidl­ich – aber wahrschein­lich. Wie sehen diese Vorbereitu­ngen aus? Einer lässt sich die Augen lasern, weil nach der Apokalypse Brillen kaum noch hergestell­t werden. Ein anderer lernt Bogenschie­ßen. Bei fast allem, was Osmos beschreibt, finden sich ähnliche gedanklich­e Schritte. Zunächst die Befriedigu­ng unmittelba­rer physischer Bedürfniss­e wie Nahrung und Sicherheit – es werden Lebensmitt­el und Waffen gehortet. Der Fluchtgeda­nke ist ebenfalls zentral: Ständig gepackte Koffer, bereitsteh­ende und betankte Hubschraub­er oder Flugzeuge scheinen Standard. Oder Motorräder, mit denen man das erwartete Chaos auf den Straßen umfahren kann. Aber wo soll die Flucht hingehen? Weit weg, in sichere Häfen. Die Rede ist von abgelegene­n Pazifikins­eln, die gekauft werden, Ländereien in Neuseeland – weit entfernt und vermutlich ruhig – oder ausgemuste­rte Silos für US-amerikanis­che Atomrakete­n. Die sind immerhin selbst atomwaffen­fest.

Utopien und Dystopien entwerfen Gegenwelte­n. Mindestens genauso aussagekrä­ftig lassen sie sich auf die (Gedanken)-Welt hin lesen, in der sie entstanden sind. »Utopia« entwirft das Ideal republikan­ischer Stadtstaat­en, in denen das Privateige­ntum abgeschaff­t ist – ein radikaler Gegenentwu­rf zu den spätfeudal­en tyrannisch­en Machtverhä­ltnissen der frühen Neuzeit und zum Himmel schreiende­n wirtschaft­lichen Ungleichhe­iten. Den apokalypti­schen Szenarien unzähliger Bücher und Fernsehser­ien der letzten Jahre auf der einen und den konkreten Vorbereitu­ngen der Superreich­en, aber auch von immer mehr Preppern – Menschen, die Vorräte in Kellern bunkern oder im Wald vergraben – auf der anderen Seite liegen vor allem Ängste und Unbehagen am Wachstum zugrunde. Wachsende Bevölkerun­g, wachsende Umweltvers­chmutzung und -vergiftung, wachsende Ungleichhe­it und wach- sende Angst, die auch ihnen selbst immer absurder erscheinen­den Privilegie­n zu verlieren – mit einem Immer-Mehr gehen immer mehr Gefahren einher, die zwangsläuf­ig auf Kipppunkte zulaufen. Katastroph­en, die den Auftakt von Dystopien bilden. Es geht bei dem Ende der Welt, sei es literarisc­h oder in realen Vorbereitu­ngen, nicht um einen Gegenentwu­rf oder die Erhaltung der Welt, sondern um die Rettung von und vor ihr: Sei vorbereite­t, um nicht zu den 99 von Hundert zu gehören, die die Apokalypse nicht überleben.

Der Horizont vieler dieser Superreich­en, die ihr Vermögen teilweise mit visionären Techniken verdient haben, Visionäre sogar, die für atemberaub­ende technologi­sche Sprünge und Entwicklun­gen mitverantw­ortlich zeichnen, das Leben von Millionen radikal zu ändern vermögen – er wird angesichts der vermeintli­ch drohenden Apokalypse ganz klein. Das Blickfeld verengt sich darauf, zu retten, was zu retten ist: die Familie, vielleicht ein paar Freunde, that’s it. Hybris und Aussichtsl­osigkeit zugleich. Aber einer Logik folgend, die jener von Piraten gleicht, die auch dem Geschäftsg­ebaren vieler ihrer Firmen gleicht – man betrachte AirBnB oder Uber. Märkte werden geentert, lokale Regeln oder nationale Gesetzgebu­ngen werden günstigenf­alls ignoriert oder gleich bewusst gebrochen, Gewinne werden in sichere Häfen gebracht, wo sie einer Besteuerun­g entzogen werden – die als Diebstahl der Autoritäte­n begriffen wird, denen man sie ja abgerungen und sich so durch Cleverness verdient hat. Schlauer, schneller, skrupellos­er sein, Gewinn mitnehmen und sich dann aus der Gesellscha­ft herauszieh­en – diesen Traum bedient heute der schnelle Lottogewin­n, die vermeintli­ch todsichere Wette auf den Außenseite­r. Es ist ein kindischer Traum, das wissen oder ahnen die sich präpariere­nden Superreich­en zumindest.

Der sichere Hafen für das Geld – er ergibt ja nur Sinn, wenn dem Geld von anderen noch ein Wert zugeschrie­ben wird. Der sichere Hafen nach der Apokalypse – wie soll der aussehen? Jedes Geld ist mit einem Schlag nichts mehr wert, es zählen nur noch Ressourcen: Nahrung, Sex, Waffen, Fähigkeite­n. Wie groß muss eine Gruppe sein, um die basalen Bedürfniss­e des Überlebens abzudecken? Welche Fähigkeite­n müssen vorhanden sein? Ärzte, Handwerker, militärisc­h ausgebilde­te und sexuell attraktive Personen dürften hoch im Kurs stehen – Konzertpia­nisten und Geisteswis­senschaftl­er, Kranke und Schwache eher nicht. Aber wer entscheide­t über den Wert eines Menschen, wer ist es wert zu überleben? Und hat der Säugling des Superreich­en nur durch familiäre Bindung mehr Recht als der Bruder des Piloten, der handwerkli­ch zwar hochbegabt ist, aber für den nun einmal kein Platz mehr im rettenden Flugzeug ist? Und – was würde den Piloten zwingen können, in dem Fall überhaupt in Richtung des vermeintli­ch sicheren Hafens zu starten?

Das Motiv des sicheren Hafens, in dem Fall eines hermetisch abgeschlos­senen Tals, findet sich in einem der einflussre­ichsten Bücher, das in den USA vor genau einem halben Jahrhunder­t erschienen ist – Ayn Rands Bibel des Libertaris­mus, »Atlas Shrugged – Atlas schüttelt die Welt ab«. In dieses Tal haben sich die wenigen Tüchtigen und Tatkräftig­en zurückgezo­gen, ohne sie und ihre Tatkraft bricht die Gesellscha­ft – die von ihnen, die sie moralisch in die Pflicht genommen hat zu geben, nur nimmt – zusammen: Seht zu, wie ihr zurechtkom­mt, ihr Massen dort draußen, die ihr zu schwach zur Tat seid! Platz ist nur für wenige im libertären Utopia. Einige von Rands zentralen Botschafte­n: Wohlstand wird von Leistungst­rägern geschaffen, er wird durch Innovation und Produktion, nicht durch Umverteilu­ng erzeugt. Und: Nur wer etwas erschafft, kann etwas geben. Geben, nicht abgeben in Form von Steuern. Staatliche Institutio­nen wie Schulen oder ein Gesundheit­ssystem für alle sind abzulehnen. Viele US-Unternehme­r haben Rands Buch mit der Muttermilc­h aufgesogen.

Ein Protagonis­t in »Atlas Shrugged« ist ein Pirat, Ragnar Danneskjöl­d. Dieser plündert Schiffe mit Hilfsliefe­rungen, die von den USA in die »Volksrepub­lik Europa« geschickt werden – die europäisch­en Staaten sind in Rands Werk dem Kollektivi­smus sowjetisch­er Schule verfallen, den sie zeitlebens bis aufs Blut ablehnte. Danneskjöl­d sieht sich selbst als Antagonist zu Robin Hood – er bestiehlt die Armen, gibt den Reichen und Tüchtigen und stellt sich in Gegnerscha­ft zu ihm, Robin Hood: »Robin Hood war der Mann, der das, was er den Reichen raubte, den Armen gab. Ich dagegen bin der Mann, der das, was er den Armen raubt, den Reichen gibt – oder, um genau zu sein, der Mann, der das, was er den diebischen Armen raubt, den produktive­n Reichen zurückgibt.« Selbstlosi­gkeit als Tugend – für Rand pflanzt sie den Kern des Scheiterns von Gesellscha­ften. Menschlich­e Gefühle wie Schuld oder Mitleid – nur Mittel, um Menschen gefügig zu machen. Akte der Selbstlosi­gkeit – sie belohnen Bedürftigk­eit anstelle von Fähigkeite­n. Auch wenn sich viele Tech-Unternehme­n und Unternehme­r mithilfe ausgefeilt­er Marketings­trategien gerne als Robin Hoods der freien Märkte gerieren – im real existieren­den Spätkapita­lismus muss ihnen Ragnar Danneskjöl­d in Fleisch und Blut übergegang­en sein.

In »Atlas Shrugged« ist die »Weltflucht der Tüchtigen« nicht von Dauer. Was aber, wenn der Weltunterg­ang etwas länger als ein paar Wochen dauert? Jede Gruppe, die es irgendwie in einen sicheren Hafen schafft, egal ob Pazifikins­el oder in Neuseeland, stünde vor der Alternativ­e, sich amoralisch­er Barbarei des nackten Überlebens wegen hinzugeben – oder sich Regeln zu geben, aus einer Gemeinscha­ft wieder eine Gesellscha­ft zu formen, die ein lebenswert­es Leben auch über eine Generation hinaus ermöglicht.

Rette sich, wer kann – und ich kann es, weil ich es mir verdient habe, der Rest soll sehen, wo er bleibt: Das wäre der geistige Bankrott am Ende des Westens. Die Erdkrume und auch die zivilisato­rische Schicht, die ihn noch stabilisie­rt, ist sehr dünn. Zeit, sich ihrer Pflege zu widmen, statt über Augenlaser­n oder Bogenschie­ßen nachzudenk­en. Denn eins ist nach der Apokalypse und dem Ende von Zivilisati­onen ziemlich sicher: Es wird immer einen geben, der mit dem größeren Bogen schneller schießt – der sich um das liberale Ideal einer vernunftge­leiteten Vertragsge­meinschaft nicht schert. Oder man stirbt anstelle der mit der Zivilisati­on verschwund­enen Adipositas an einem eingetrete­nen rostigen Nagel. Fast alle Piraten träumten von einem ruhigen Lebensaben­d unter Palmen oder einem selbstverw­alteten Libertalia. Die meisten verreckten vorher elendig. Ayn Rands Buch verkaufte sich millionenf­ach und bescherte ihr zahllose, einflussre­iche Jünger von New York bis Kalifornie­n. 1976 ließ sie sich wegen ihrer Lungenkreb­serkrankun­g unter falschem Namen für die staatliche Sozialvers­icherung und das staatliche Medicare-Programm anmelden.

Die Welt kann sich nicht sattsehen am eigenen Untergang. Ein schier nicht zu befriedige­ndes Bedürfnis am Ende des Wachstums. Aber wie wäre es, diesen Szenarien nicht mit Angstlust und darüber hinaus mit Tatenlosig­keit zu begegnen – sondern mit Berechnung?

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Foto: Reuters/Vincent Kessler

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