Streit um eine blonde Frau
»Der Pakt. Hollywoods Geschäfte mit Hitler« – Ben Urwand zerpflückt eine Mär aus dem Goldenen Zeitalter des Films
Elf Männer saßen in einem Vorführraum in Berlin. Nur manche von ihnen waren Nationalsozialisten. Vorne im Raum war Dr. Ernst Seeger, oberster Zensor noch aus einer Zeit, lange bevor Hitler an die Macht gelangt war. Neben Seeger befanden sich als Beisitzer im Raum: ein Produzent, ein Philosoph, ein Architekt und ein Pastor. Weiter hinten saßen die Repräsentanten eines Filmverleihs und zwei Sachverständige. Der Film, den sie ansehen würden, kam aus den USA, sein Titel war »King Kong«.
Als der Projektor zu surren begann, hob einer der Vertreter der Filmgesellschaft zu sprechen an. Er verlas ein Skript, das den fiktiven Charakter der Geschehnisse auf dem Bildschirm unterstrich. Während er sprach, sahen die anderen Anwesenden zu, wie sich die Handlung entfaltete. Sie konnten einen gewaltigen Gorilla beobachten, wie er einer schönen Frau verfällt und dann vom Empire State Building stürzt. Einer der Charaktere murmelte etwas über die Schöne und das Biest und der Film kam zum Ende.
Dr. Seeger sah hinüber zum ersten Sachverständigen, Professor Zeiss vom Reichsgesundheitsamt. »Kann der Bildstreifen«, fragte Seeger, »einem normalen Kinopublikum zugemutet werden ...?« Zeiss war nicht in der Stimmung zu kooperieren. »Zunächst«, sagte er, »muss ich fragen, ob der Hersteller des Bildstreifens eine ausländische Firma und der Antragsteller eine deutsche Verleihgesellschaft ist.« Seeger antwortete, es handle sich um eine deutsche Verleihgesellschaft. Zeiss explodierte. »Ich bin erstaunt und empört«, schrie er, »wie eine deutsche Firma es wagen kann, den Antrag auf Zulassung eines solchen Bildstreifens zu stellen, der gesundheitsschädigend wirken muss. Es ist nicht nur unverständlich, sondern geradezu eine Unverfrorenheit, einen solchen Film vorzulegen, der einen einzigen Angriff auf die Nervenkraft des deutschen Volkes darstellt!«
Es gab einen Moment der Stille. Dann bat Seeger, der Sachverständige möge nicht solcherart die Motive der Firma beurteilen, sondern seine Ausführungen auf sein eigenes Fachgebiet beschränken. Zeiss kehrte zur Ausgangsfrage zurück. »Es ist eine Provokation des Rasseninstinktes«, sagte er, »wenn vorliegend eine blonde Frau von germanischem Typ in der Hand eines Affen dargestellt wird. Das bedeutet eine Verletzung des gesunden Rasseempfindens des deutschen Volkes. Die Quälereien, denen diese Frau ausgesetzt ist, ihre Todesangst … und die anderen Scheußlichkeiten, die sich ein Mensch im Whiskyrausch vorstellt, schädigen die deutsche Gesundheit. Bei der Beurteilung des Bildstreifens kommt es weder auf dessen Technik, die anzuerkennen ist, noch darauf an, dass die Regierungen außerdeutscher Länder glauben, diesen Bildstreifen ihren Völkern zumuten zu können. Für das deutsche Volk ist der Bildstreifen unerträglich.« Zeiss hatte sein Plädoyer mit dem ganzen Eifer eines guten Nationalsozialisten vorgetragen ...
Als Antwort darauf verteidigte Dr. Schulte, Assistenzarzt an einer Nervenklinik in Berlin, die Position des Filmverleihs. Anders als Zeiss war er ruhig und gelassen und stellte alle erhobenen Vorwürfe in Abrede. »Wo der Bildstreifen noch gefährlich wirken könnte«, sagte er, »wirkt er nur Der auch in deutschen Kinos gezeigte Hollywood-Streifen gehörte zu Hitlers Lieblingsfilmen. lächerlich. Es darf nicht übersehen werden, dass der Bildstreifen von einer amerikanischen Firma für amerikanische Zuschauer hergestellt wurde und das deutsche Publikum bedeutend kritischer ist als jenes. Wenn auch zuzugeben ist, dass der Raub der blonden Frau durch ein sagenhaftes Ungeheuer heikel ist, so wird dabei doch nicht über die Grenzen des Zulässigen hinausgegangen.«
»Psychopathische Personen oder Frauen«, fügte er hinzu, »die durch den Bildstreifen in Aufregung versetzt werden könnten, dürfen nicht zum Maßstab für die Entscheidung über die Zulassung des Bildstreifens genommen werden.« Die Mitglieder des Ausschusses waren in der Zwickmühle. Beide Seiten hatten vertretbare Argumente vorgebracht; niemand wollte sich schon auf ein definitives Urteil festlegen. Sechs Monate zuvor waren sämtliche deutsche Kulturinstitutionen dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda unterstellt worden und seitdem wusste niemand so recht, was erlaubt war und was nicht. Jedenfalls wollte sich niemand beim neuen Propagandaminister, Joseph Goebbels, unbeliebt machen. Seeger forderte daher die Position des Ministeriums zum Fall an und setzte für die darauffolgende Woche eine zweite Verhandlung an ...
Eine ganze Woche verging ohne auch nur die Spur einer Antwort, dann eine weitere Woche. Seeger war gezwungen, das Treffen zu verschieben. Schließlich kam ein Brief. Nachdem so viel Aufhebens gemacht worden war, verkündete das Propagandaministerium, »King Kong« sei nicht schädlich für den Rasseninstinkt. Seeger rief eilends den Ausschuss wieder zusammen.
Der Kreis der Anwesenden war geschrumpft ... Seeger begann damit, die Handlung des Films zusammenzufassen. »Auf einer unentdeckten Insel der Südsee leben noch Tiere der Urzeit: ein 15 Meter hoher Gorilla, Seeschlangen, Saurier verschiedener Art, ein Riesenvogel u. a. Vor diesem durch eine Mauer abgeschlossenen Reich der Urwelt leben Schwarze, die dem Gorilla King Kong Menschenopfer darbringen. Einer Filmexpedition, die auf der Insel Auf- nahmen machen will, entführen die Schwarzen den weiblichen blonden Star und bringen ihn anstatt einer Frau ihres Stammes dem King Kong dar. Die Schiffsmannschaft dringt in das Reich des Gorillas ein und hat fürchterliche Kämpfe mit den Urzeitbestien zu bestehen. Schließlich gelingt es, den Gorilla mit einer Gasbombe zu betäuben und gefesselt nach New York zu bringen. Während einer Schaustellung bricht der Gorilla aus, die Menschen fliehen in panischem Entsetzen, eine Hochbahn kommt durch den Gorilla zur Entgleisung, mit seinem Star-Püppchen in der Hand klettert das Untier auf einen Wolkenkratzer und wird hier endlich durch Flugzeuge zum Absturz gebracht.«
Der Ausschuss befand, dass »die Gesamtwirkung dieses typisch amerikanischen Sensationsfilms auf den deutschen Beschauer eine so kitschige und Heiterkeit auslösende ist, dass von seiner Vorführung eine unmittelbare und dauernde Schädigung der Gesundheit normaler Theaterbesucher nicht erwartet werden kann«. Der Film war schlicht zu »unwirk- lich« und »märchenhaft«, um glaubhaft zu sein. Daraufhin genehmigte der Ausschuss »King Kong« unter dem neuen Titel »Die Fabel von King Kong: Ein amerikanischer Trick- und Sensationsfilm«. Noch aber war Seeger nicht ganz wohl dabei, den Film in seiner gegenwärtigen Form freizugeben. Er entschied, dass die Nahaufnahmen von King Kong, wie er die schreiende Frau in seiner Hand hält, nicht zu zeigen seien, denn laut Zeiss waren diese ganz besonders schädlich für die deutsche Gesundheit. Ebenso wenig gezeigt werden sollte die Entgleisung des Hochbahnzugs, da die Szene »geeignet erscheint, das Zutrauen der Bevölkerung zu diesem wichtigen öffentlichen Verkehrsmittel zu erschüttern«.
Am 1. Dezember 1933 erlebte »King Kong« in 30 Erstaufführungshäusern in ganz Deutschland gleichzeitig seinen Kinostart. Der Film erhielt gemischte Kritiken in der Presse. Das wichtigste Presseorgan der Nazis, der »Völkische Beobachter«, äußerte sich bewundernd zu den technischen Errungenschaften, kritisierte jedoch, wie billig die Handlung sei ... »Der Angriff«, Goebbels’ Hauszeitung, begann seine Besprechung mit der Frage, warum »King Kong« in den Vereinigten Staaten einen so unglaublichen Erfolg genieße. »Wir wagen zu behaupten, dass es nicht so sehr der Technik wegen, als vielmehr wegen seiner Handlung geschah. Diese Handlung zeigt den gewaltigen Kampf der Urkräfte der Natur, dargestellt durch King Kong und gigantische Saurier, gegen die zivilisatorischen Kräfte der hochentwickelten weißen Rasse … Triumph der Zivilisation? – Kaum! In Wahrheit ist King Kong der tragische Held dieses Films.« Die Diskussion um King Kong erreichte die höchsten Ränge des Dritten Reichs. Dem Auslandspressechef zufolge war er einer von Hitlers Lieblingsfilmen ...
Die Faszination, die für die Nazis von King Kong ausging, fügt sich nicht nahtlos ein in die allgemein akzeptierte Darstellung des Hollywood der 1930er Jahre. In der Vorstellungswelt der Allgemeinheit war dies das »Goldene Zeitalter« des amerikanischen Kinos, die großartige Dekade, in der die Studios so unvergessliche Filme wie »Der Zauberer von Oz«, »Vom Winde verweht«, »Mr. Smith geht nach Washington« und »Es geschah in einer Nacht« produzierten. Es war die Dekade, in der Hollywoodfilme einen Grad an Perfektion erreichten, von dem man vorher nur träumen konnte. Man spüre, so schrieb ein bedeutender Kritiker über das Jahr 1939, dass »hier eine Kunst ihr vollkommenes Gleichgewicht, ihre ideale Ausdrucksform gefunden hat … Kurz, alle Merkmale der Reife einer ›klassischen‹ Kunst«.
Eine wichtige Tatsache jedoch in Hinblick auf Hollywoodfilme in dieser Zeit ist ihre enorme Popularität in Nazideutschland. Zwischen 20 und 60 neue amerikanische Titel erreichten dort bis zum Ausbruch des Zwei- ten Weltkriegs jedes Jahr die Leinwände und sie durchdrangen alle Aspekte der deutschen Kultur. Für den zufälligen Beobachter, der die Straßen von Berlin entlangging, bestätigte sich dies überall. Es gab Menschenschlangen vor den Kinos, Fotografien von Hollywood-Stars auf den Titelseiten der Magazine und glühende Besprechungen der neuesten Filme in den Zeitungen. Aber für all diesen Erfolg und den ganzen Rummel hatten die amerikanischen Studios einen fürchterlichen Preis zu zahlen. Eine Reihe geheimer Dokumente aus Archiven in den USA und in Deutschland zeigen, dass die Studios in dieser Periode zu einem definitiven Arrangement mit den Nazis gelangten ... So habe Louis B. Mayer, der Chef von MGM, dem deutschen Konsul in Los Angeles Filme vorgeführt und alles herausgeschnitten, wogegen der Konsul Einwände erhob. Dies erschüttert die allgemein akzeptierte Vorstellung von Hollywood, die in Dutzenden von Büchern kolportiert worden ist – nämlich, dass Hollywood während seines »Goldenen Zeitalters« so etwas wie ein Synonym für Antifaschismus war ...
Wie andere amerikanische Firmen, z. B. IBM oder General Motors, hatten die Studios von Hollywood in ihrer Entscheidung, Geschäftsbeziehungen mit den Nazis zu unterhalten, Profit über Prinzipien gestellt. Sie ließen, auf unterschiedliche und verstörende Art und Weise, Geld in die deutsche Wirtschaft fließen. Aber die Studios waren, wie das US-Handelsministerium erkannt hatte, nicht schlicht Vertreiber von Waren; sie waren Vermittler von Ideen und Kultur. Sie hatten die Möglichkeit, der Welt zu zeigen, was in Deutschland wirklich vor sich ging. Hier erhält denn auch der Begriff »Kollaboration« seine volle Bedeutung.
Die Studiobosse, die größtenteils jüdische Immigranten waren, nahmen immens viel in Kauf, um an ihrem Engagement in Deutschland festhalten zu können. Auch wenn wenige dies zu der Zeit kommentierten, befolgten diese Männer die Instruktionen des deutschen Konsuls in Los Angeles und gaben eine ganze Reihe von Filmen, welche die Brutalität des Naziregimes unverhüllt gezeigt hätten, auf oder änderten sie ab ... Wenn dies ein düsteres Kapitel in der Geschichte von Hollywood ist, dann ist es auch ein düsteres Kapitel in der Geschichte der USA.
Im Zentrum der Kollaboration stand Hitler selbst. Er war geradezu besessen von Filmen und er erkannte ihr Potenzial, die öffentliche Meinung zu formen. Er profitierte immens von einem Arrangement, das nie außerhalb von ein paar Büros in Berlin, New York und Los Angeles diskutiert wurde. Es ist an der Zeit, unter die Schichten vorzudringen, welche diese Kollaboration so lange verborgen haben, und die historische Verbindung zwischen dem einflussreichsten Individuum des 20. Jahrhunderts und der Filmhauptstadt der Welt zu enthüllen.
Hollywood war in den 1930er Jahren keinesfalls Synonym für Antifaschismus.
Bei dem hier publizierten Text handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem in den USA heftig umstrittenen Buch »The Collaboration: Hollywood’s Pact with Hitler« des Harvard-Historikers Ben Urwand, das im März auf Deutsch unter dem Titel »Der Pakt. Hollywoods Geschäfte mit Hitler« im Theiss Verlag erscheint (Aus dem Engl. von Gisella M. Vorderobermeier, 320 S., geb., 29,95 €).