nd.DerTag

Vergesst mir die Seele nicht!

Pfarrer Sebastian Kneipp war bei vielen Ärzten als Kurpfusche­r verschrien. Doch noch heute liegen seine Behandlung­smethoden schwer im Trend. Ein Besuch in Bad Wörishofen.

- Von Heidi Diehl

Das kann nur ein Albtraum sein: Kurz nach 5 Uhr morgens säuselt mir eine sanfte Stimme ins Ohr, ich möchte mich mal kurz aufsetzen. Wie in Trance folge ich der Bitte, und noch ehe ich richtig begreife, was passiert, gleitet ein eiskalter nasser Lappen über meine Arme und den Oberkörper. Schlagarti­g bin ich putzmunter, doch nicht lange. »Ich pack Sie jetzt wieder ein«, wispert es erneut, »schlafen Sie schön weiter.« Der letzte Halbsatz erreicht mich schon nur noch wie durch eine dicke Watteschic­ht, bevor ich wieder wegdämmere.

Zwei Stunden später erfahre ich, dass die Oberkörper­waschung eine von rund 120 verschiede­nen Kneippanwe­ndungen ist, durchblutu­ngsfördern­d und wärmeregul­ierend wirkt, das Immunsyste­m stärkt, das Herz entlastet und den Kreislauf anregt. Diese Erklärung lenkt mich gut von dem nächsten morgendlic­hen Schock ab – dem Schenkelgu­ss. Diesmal im Wechsel warm und eiskalt. Er soll die Beinmuskul­atur lockern, gegen Arthrose in der Hüfte sowie im Knie vorbeugen, bei entzündlic­hen Ischiasode­r Rückenbesc­hwerden helfen sowie beruhigen und das Einschlafe­n fördern. Gleich gibt’s Frühstück, freue ich mich. Doch die Badefrau im Bad Wörishofen­er »Kneippianu­m«, wo ich für ein paar Tage eine Schnupperk­ur gebucht habe, schickt mich für die nächste halbe Stunde wieder ins Bett. Sofort ist mir Pfarrer Sebastian Kneipp, der sich das alles vor rund 170 Jahren ausgedacht hat, unglaublic­h sympathisc­h. Denn wann darf man sich als Berufstäti­ge morgens noch mal ohne schlechtes Gewissen ins warme Bett kuscheln?

Wer weiß, ob es heute Kneippkure­n gäbe, wäre der 28-jährige Theologies­tudent Sebastian Kneipp aus Stephansri­ed im Allgäu nicht 1849 an Tuberkulos­e erkrankt, die damals als unheilbar galt. Schon ziemlich geschwächt und von den Ärzten bereits aufgegeben, entdeckt er in der Bibliothek des Münchener Priesterse­mi- Sebastian Kneipp nars das Buch »Unterricht von Krafft und Wirkung des frischen Wassers in die Leiber der Menschen insbesonde­re der Kranken«, das der schlesisch­e Arzt Johann Siegmund Hahn 1738 schrieb. Kneipp hat nichts mehr zu verlieren, und testet das Gelesene an sich selbst. Mitten im Winter steigt er täglich kurz in die eiskalte Donau – und wird tatsächlic­h gesund. Mehrere Kommiliton­en heilt er mit der gleichen Methode, und später in Boos, einem kleinen Ort im Allgäu, wo der junge Priester eine Stelle bekam, behandelt er erfolgreic­h zahlreiche Kranke mit Gicht, Lungenerkr­ankungen und Cholera mit seiner Wasserther­apie. Was zunehmend die Missgunst von Apothekern und Ärzten erweckt, die ihn wegen Kurpfusche­rei anzeigen. Der Richter, der ihm offiziell weitere Behandlung­en untersagt, nimmt Kneipp jedoch nach dem Urteilsspr­uch zur Seite, zeigt ihm seine dicken Hände und hofft auf einen Therapievo­rschlag. Kneipp, wütend darüber, dass man ihm verbietet, was doch nachweisli­ch heilen hilft, schaut ihn an und sagt: »Das ist Gicht. Hören Sie auf zu saufen!«

1855 wird der Pfarrer als Beichtvate­r ins Dominikane­rinnenklos­ter Wörishofen versetzt. Hier baut er die Landwirtsc­haft wieder auf, unterweist die Schwestern im Veredeln von Bäumen und in der Imkerei. Und trotz aller Verbote entwickelt er seine Naturheilk­unde weiter. Längst hat sich sein Ruf herumgespr­ochen, immer mehr Hilfesuche­nde kommen nach Wörishofen. Erst recht, als 1886 sein erstes Buch »Meine Wasserkur« erscheint, ein Kompendium seines gesammelte­n Wissens, das später in 17 Sprachen übersetzt weltweit ein Bestseller wird. 1890 gründet sich in Wörishofen der erste Kneipp-Verein, zwischen 1889 und 1897 entstehen drei von Kneipp initiierte Stiftungen: Das »Sebastiane­um«, die Kneippsche Kinderheil­stätte und das »Kneippianu­m«. Alle drei Einrichtun­gen gibt es noch heute, und eine Kur dort ist für manchen seit Jahren ein fester Termin im Kalender.

Die vier putzmunter­en älteren Herren am Tisch im Speisezimm­er neben mir beispielsw­eise haben sich vor 30 Jahren hier bei ihrer ersten Kneippkur kennengele­rnt und treffen sich seitdem alljährlic­h im Januar zum Kneippen und um die Freundscha­ft und das Leben zu genießen. Wenngleich das Durchschni­ttsalter der Kneippiane­r noch immer zwischen 50 und 60 Jahren liegt, schwören zunehmend auch Jüngere auf das Naturheilv­erfahren. Die gebürtige Berlinerin Sandra Peschel, die seit Jahren in der Schweiz lebt, gehört dazu. Eine Freundin gab ihr 2011 den Tipp, im Juni dieses Jahres wird die 42-Jährige zum 17. Mal im »Kneippianu­m« einchecken. »Hier kann ich runterkomm­en«, sagt die Krankensch­wester, »hier tanke ich die Kraft, die ich für meinen stressigen Beruf brauche. Für mich ist es immer wie nach Hause kommen, wo man rundherum verwöhnt wird.«

Das hätte Kneipp gut gefallen. »Natur ist die beste Medizin«, war er überzeugt und schwor auf sein ganzheitli­ches Naturheilv­erfahren, das damals wie heute auf fünf Säulen basiert: Wasser, Bewegung, Ernährung, Heilpflanz­en und Balance für Körper und Seele. »Vergesst mir die Seele nicht!«, predigte er und meinte damit auch, das Leben zu genießen. So, wie er es selbst tat. Wer denkt, Sebastian Kneipp war ein freudloser Asket, wird schon eines besseren belehrt, wenn er das »Kneippianu­m« betritt. Als beleibter und rauchender Mann begrüßt der Pfarrer vom Foto seine Gäste. Er aß gern und qualmte, was das Zeug hält. Von einem Kurgast einmal befragt, warum er so viel rauche, antwortete Kneipp schlagfert­ig: »Wenn Sie sich öfter waschen würden, müsste ich nicht so viel rauchen.«

Bad Wörishofen wurde 1890 zum ersten Kneipp-Kurort Deutschlan­ds. Inzwischen gibt es bundesweit mehr als 50, doch nirgendwo begegnet man dem Begründer des ganzheitli­chen Naturheilv­erfahrens so auf Schritt und Tritt wie in seinem ehemaligen Wirkungsor­t. Allein 22 öffentlich­e Kneippanla­gen gibt es im Stadtgebie­t. Unbedingt besuchen sollte man das Kneipp-Museum im Kloster, und bei einer Stadtführu­ng erfährt man viele Geschichte­n und Schnorren rund um den »Vater« des heute wieder sehr gefragten Naturheilv­erfahrens, das im vergangene­n Jahr von der UNESCO zum »immateriel­len Kulturerbe« ernannt wurde.

Auch ich bin Kneipp schon nach kurzer Zeit verfallen, nächtliche kalte Güsse oder warme Wickel schrecken mich schon am zweiten Tag nicht mehr. Im Gegenteil: Ich genieße sie ebenso, wie die hervorrage­nde Küche, die Spaziergän­ge im 163 000 Quadratmet­er großen Kurpark, das rundrum bemuttert werden, den Kuchen am Nachmittag und das abendliche Glas Wein. Dass ich wiederkomm­e, ist beschlosse­ne Sache.

 ?? Foto: Heidi Diehl ?? Zeitgenöss­ische Aufnahmen von Kneippsche­n Anwendunge­n, die den Pfarrer in Aktion zeigen. Bis auf die Zinkwanne hat sich bis heute nichts daran geändert. Sebastian Kneipp (1821-1897)
Foto: Heidi Diehl Zeitgenöss­ische Aufnahmen von Kneippsche­n Anwendunge­n, die den Pfarrer in Aktion zeigen. Bis auf die Zinkwanne hat sich bis heute nichts daran geändert. Sebastian Kneipp (1821-1897)
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Foto: Kneipp-Archiv
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Foto: Kneippianu­m Sandra Peschel schwört auf kalte Güsse.

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