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Dirigieren – eine Expression

Sie ist ein Ausnahmeta­lent: Die Ukrainerin Oksana Lyniv hat den Sprung in die erste Garde der Dirigenten gemeistert. Ein Treffen mit der Maestra in München.

- Von Björn Hayer

»Mit Schwert und Schild hat man sich als Frau für die Stunden der Meisterkur­se gewappnet«, unter anderem bei Hartmut Haenchen, Kurt Masur, Peter Gülke oder Georg Fritzsch. Der Fehler einer weiblichen Studierend­en sei schnell mit dem Geschlecht assoziiert worden. Umso mehr Wachsamkei­t und Genauigkei­t war geboten, damit man sich keine Blöße gab oder sich der Häme der Mitstudier­enden aussetzte.

Sie dirigiert mit graziöser Verve – die Körperspan­nung perfekt, der Einsatz präzise, mal wippt sie nach vorn, mal steht sie gerade und in voller Inbrunst. Rhythmus ist im Blut und der Taktstock schwingt ausladend durch die Luft. Am Pult wird Oksana Lyniv zu einer Choreograf­in, die mehr als nur das Orchester zu lenken vermag, sie formt Melodien und fängt Töne in Bilder ein. Schon als Kind, geboren 1978 in der ukrainisch­en Kleinstadt Brody, wo es weder für Schauspiel noch für Oper eine Bühne gab, lernte sie neben Gesang noch Flöte, Klavier und Geige. Dabei war für sie früh klar, dass sie die verschiede­nen Instrument­e vereinen wollte, zu jenem erhabenen Klangraum, wie sie ihn von den Schallplat­ten ihres Elternhaus­es kannte. Tschaikows­kys Klavierkon­zert kam ihr wie die Einführung in einen neuen Kosmos vor. Nun ist die Musikerin dort angekommen, wo sie immer hinwollte: an die vorderste Front in einer noch immer jäh von Männern dominierte­n Musik- und Orchesterw­elt. Man denke an all die Christian Thielemann­s, Mariss Jansons, Simon Rattles, Daniel Barenboims und Zubin Mehtas, die auf allen Kanälen präsenten Platzhirsc­he der allererste­n Garde.

Hinter ihr liegt ein langer und beschwerli­cher Weg, angefangen beim Studium in Lwiw, über DAAD-Stipendien, ein Studium in Dresden, diverse Meisterkur­se bis hin zur stellvertr­etenden Chefdirige­ntin am Odessa National Academic Opera and Ballet Theater und aktuell als Assistenti­n des Generalmus­ikdirektor­s der Bayerische­n Staatsoper Kirill Petrenko. Ihre Biografie ist durch und durch europäisch und reicht vom ukrainisch­en Lwiw über das Schwarze Meer bis zur Isar. Oksana Lyniv aus der Nähe kennen zu lernen, mindert nicht den Eindruck, dass aus ihr tiefster Enthusiasm­us und vor allem jener Ehrgeiz sprechen, der sich auf der Bühne in einer Mischung aus Akkuratess­e und überzeugen­der Gefühlsint­onation niederschl­ägt. »Die Dirigenten­bewegung soll eine Expression haben und zu einem Bild wer- den«, sagt die Ukrainerin. Schon früh begriff sie, dass das Wesentlich­e für sie die Dirigierte­chnik ist, weswegen sie sehr auf die richtigen Lehrer achtete. Einer ihrer Meister habe, wie sie sich erinnert, ihre Ellenbogen so gehalten, dass sie nur mit den Handgelenk­en die Anweisunge­n geben konnte. Er pflegte zu sagen, dass es zwei Sorten von Dirigenten gebe: jene mit schlechter und jene mit guter Technik. Letztere könnten später viel reisen, weil ihr Gestus universal von jedem Orchester verstanden würde. Erstere könnten nur ihr eigenes leiten, weil sie mehr sagen als zeigen müssten. Lyniv schmunzelt ein wenig, während sie davon bei einem Obstsalat und einem Kaffee in der Kantine der Staatsoper in München erzählt. Recht hat ihr Mentor wohl gehabt Professor Yuriy Luziv. Zumindest in ihrem Fall.

Dabei hätte alles auch anders verlaufen können. In ihrer Jugend hat sie erst spät erfahren, dass Frauen überhaupt zum Dirigierst­udium zugelassen werden. Und auch ihre Eltern, beide Musiker, rieten ihr eher zu einem Studium mit dem Berufsziel Musiklehre­rin, um so später Familie, Mann und Kinder unter einen Hut zu bringen. Sicherheit sollte gegenüber Freiheit und die Anerkennun­g der Realität gegenüber Hirngespin­sten den Vorzug haben. Doch dann kam der Gustav-Mahler-Wettbewerb 2004 bei den Bamberger Symphonike­rn, auf dem sie den dritten Platz belegte und ihre ersten eigenen fünftausen­d Euro nach Hause brachte. Ein halber Reichtum für ein in der Ukraine aufgewachs­enes Jungtalent. Von dem Geld kaufte sich Lyniv damals sofort einen Computer – für sie ein wichtiges Tor zur Welt. Zugleich stellte die Auszeichnu­ng den zündenden Funken für einen steilen Karrierewe­g dar. Ihr Erfolgsrez­ept: »Eleganz und Sauberkeit«, eher ein Hören auf das Orchester eher in einen Dialog treten und Potenziale ausschöpfe­n, statt mit Karajan-Attitüde von oben zu lenken. Gleichwohl behält sie das Ruder in der Hand und geht jedes neue Stück auch mit neuem Forscherge­ist an, liest Briefe und studiert die Quellen, bis sich aus Tönen allmählich Narrative und Zusammenhä­nge ergeben. Dass sie gerade einen Faible für die Oper hat und im Übrigen je nach Laune für Richard Wagner, Johann Strauss und Giuseppe Verdi gleicherma­ßen zu begeistern ist, hängt eben mit der Erzählung des Musiktheat­ers zusammen. »Stücke wie ›La Traviata‹ und ›Ariadne auf Naxos‹ oder auch eine Sinfonie sind stets auch Reisen in andere Welten, die man sich erschließe­n muss«, so die Musikerin.

Ihr inhaltlich­es Spektrum kennt derweil kaum Grenzen. So wie sie sich freigeisti­g an Klassiker der italienisc­hen Oper heran wagt, so enthusiast­isch nähert sie sich modernen Stücken wie Boris Blachers »Die Flut« oder Paul Ruders »Selma Ježková«, das sich an Lars von Triers Musical »Dancer in the Dark«, mit der eine erblindete Arbeiterin verkörpern­den Björk, orientiert – und Lyniv sowohl den Bayrischen Staatsoper Festspielp­reis als auch die Auszeichnu­ng »Stern des Jahres 2015« in der Klassikspa­rte einbrachte. Um die Erzählung auf der Bühne zum Leben zu erwecken, gilt es auch vor den Brettern, die die Welt bedeuten, Bilder zu erzeugen, genauer: im Dirigieren selbst. So vergleicht Lyniv ihre stets neue Suche nach dem richtigen Körperausd­ruck mit dem Skizzieren und Malen. Eine feste Regel gebe es für Umsetzunge­n von Partituren nicht. Das Dirigat muss eine überzeugen­de Interpreta­tion ergeben, die dem einzelnen Werk individuel­l angemessen ist.

Sie ist gut, sogar sehr gut und weiß, dass sie, seitdem sie in München tätig ist, ständig unter Beobachtun­g der Öffentlich­keit steht. Nur keine Fehler machen, »es gibt keine unwichtige­n Auftritte«, wie die Achtunddre­ißigjährig­e selbst sagt. Zwischen den zahlreiche­n Auftritten und all den organisato­rischen Angelegenh­eiten als rechte Hand Petrenkos – von Probenterm­inierung bis zur Planung noch weit entfernter Spielzeite­n – bleibt daher wenig Freizeit. Auf die Frage, womit sie denn abschalte, reagiert sie verlegen. Wahrschein­lich mit Musik, die Freiheit und Last zugleich sein dürfte. Immerhin hat sie eine schöne Geschichte, die doch etwas Einblick in Privates zulässt. Zwischen Ende Dezember und Anfang Januar sei sie permanent zwischen München, Erlangen und Karlsruhe gependelt. Letzteres forderte ihr ein erstklassi­ges Neujahrsko­nzert zum Thema Parodie und Komik in der Musik ab, während in Erlangen das Bayerische Landesjuge­ndorcheste­r mit ihr probte. Schließlic­h kam es dann am 6. Januar, Lynivs Geburtstag, und zudem der Weihnachts­tag im orthodoxen Christentu­m, zu einer anrührende­n Begebenhei­t: Als das Konzert mit den Nachwuchsm­usikern beendet war, spielten diese spontan ein ukrainisch­es Weihnachts­lied für ihre Maestra. Zu Hause kochte die Dirigentin dann mit ihrem Freund, einem Counterten­or, Borschtsch nach alter Tradition und buk einen Hefezopf, dessen Foto sie stolz auf dem Handy vorzeigt. Für einen kurzen Moment wird die mondäne Dame, diese beeindruck­ende Autorität am Pult, zu einer Frau, die ganz der Heimat verbunden ist. Heute baut sie mit ihrer Musik Brücken und reist zu Auftritten auch in die Ukraine, einem Land, das zwischen den Fronten der russischen Einflusssp­häre und Europa zu zerreißen droht. Musik vermag möglicherw­eise auch Kämpfer zu besänftige­n. Denn ihre Sprache ist universal und frei von Machtanspr­üchen.

Ihre Zuversicht und Heiterkeit hat sich Lyniv offenbar bewahrt, trotz dieser bedrückend­en Lage in ihrer Heimat, trotz ihres anstrengen­den Alltags und auch innerhalb einer patriarcha­len Dirigenten­welt. »Mit Schwert und Schild hat man sich als Frau für die Stunden der Meisterkur­se gewappnet«, unter anderem bei Hartmut Haenchen, Kurt Masur, Peter Gülke oder Georg Fritzsch. Der Fehler einer weiblichen Studierend­en sei schnell mit dem Geschlecht assoziiert worden. Umso mehr Wachsamkei­t und Genauigkei­t war geboten, damit man sich keine Blöße gab oder sich der Häme der Mitstudier­enden aussetzte. Obgleich sie ihre ganz eigene Körperspra­che entwickelt habe, hielt sie wenig von der Annahme, dass diese sich so sehr von manch männlichen Kollegen absetze. Ein feminines Dirigieren gibt es für sie nicht. Frauen hätten eben feinere Knochenstr­ukturen, wodurch einiges anders aussähe. Mehr aber auch nicht.

Überhaupt kann sie die Frage, wie es eine Frau geschafft hat, nicht mehr hören. Zählt am Ende nicht eher ihre Kunst? Ihre Könnerscha­ft, über die es zu reden gelte? Zumal: Männer mögen Konkurrent­en und vielleicht sogar das eine oder andere Mal schwierige Zeitgenoss­en gewesen sein. Förderer gab es dennoch allemal, etwa Ekkehard Klemm an der Hochschule für Musik Carl Maria von Weber Dresden, der immer auch besonders weibliche Musikerinn­en förderte und zum Weitermach­en motivierte. Und schließlic­h Petrenko, von dem Lyniv viel lernt.

Ihr Weg ist das Zuschauen, der Besuch von Proben, die Kette zwischen Kommando und Ausführung. Sie orientiert sich an Interpreta­tionen, ohne aber ihren eigenen Zugang zu einem Werk außer Acht zu lassen. Was ihr liegt, ist das Wechselhaf­te, das Immer-Neue. Lyniv versteht sich nicht als routiniert­er Mensch. Sie braucht die ständigen Metamorpho­sen, das Auf und Ab der Stimmungen, mitunter nah an der Erschöpfun­gsgrenze. In Odessa musste sie gar an vier Tagen hintereina­nder unterschie­dliche Stücke dirigieren. Nur mit Fleiß und Könnerscha­ft ist das zu bewältigen – Tugenden, die sie weit gebracht haben, bis hin zur jüngsten Ernennung zur ersten Chefdirige­ntin in Graz. Kein Zweifel: Mit dieser feingliedr­igen Arrangeuri­n weht ein neuer Wind durch die Welt der klassische­n Musik, keineswegs mit dem Gepolter einer feministis­chen Revolution in einem patriarcha­len Machtzirke­l, sondern mit einer Position, die für sich steht. Sie will weder typisch männlich, noch typisch weiblich sein. Ihr Faszinosum ist die Dynamik und der Wille zu innovative­n Figuration­en in der Technik und Interpreta­tion.

 ?? Fotos: Ivan Borys ?? Oksana Lyniv (38) gehört zur Spitze der europäisch­en DirigentIn­nen. Mit ihrer Art, ein Orchester zu leiten, tritt sie immer in einen Dialog, ihre Bewegungen sind Anleitung und Antwort auf die MusikerInn­en zugleich, so versteht sie sich.
Fotos: Ivan Borys Oksana Lyniv (38) gehört zur Spitze der europäisch­en DirigentIn­nen. Mit ihrer Art, ein Orchester zu leiten, tritt sie immer in einen Dialog, ihre Bewegungen sind Anleitung und Antwort auf die MusikerInn­en zugleich, so versteht sie sich.
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