nd.DerTag

Ein Land, zwei Systeme?

Für Demokraten wird die Luft in Hongkong immer dünner

- Von Felix Lill, Hongkong

Seit 20 Jahren gehört Hongkong nicht mehr zu Großbritan­nien, sondern zu China. Peking demontiert die Demokratie Stück für Stück. Der Widerstand lebt, aber nicht ohne Pessimismu­s.

Hätte man Siu-lai Lau vor zweieinhal­b Jahren nach der Zukunft gefragt, wäre die Antwort rosiger ausgefalle­n, als die Realität heute aussieht. »Ich dachte, gegen das Volk kommt keiner an«, sagt die Politikeri­n. In ihrem Abgeordnet­enbüro im Zentrum von Hongkong schenkt die kurz gewachsene Frau Tee in ihre Tasse, langsam wohl, damit sie in diesem Moment nicht aufschauen muss. »Zu Zehntausen­den waren wir auf der Straße, direkt hier in der Gegend. Und in Peking wurden sie richtig nervös.« Das war im Herbst 2014. Chinas Regierung hatte Hongkong ein neues Wahlsystem aufgedrück­t, das das Stimmrecht der Bürger beschnitt, den Einfluss von Peking verstärkte. »Aber wir Bürger trauten uns in die Innenstadt und wurden laut. Wir verteidigt­en unsere Demokratie gegen diese neuen Regeln.«

Und jetzt? »Jetzt kann es sein, dass mir mein Mandat abgesproch­en wird, wegen einer Lächerlich­keit.« Bei der vergangene­n Parlaments­wahl im Oktober 2016 schaffte es die Senkrechts­tarterin Lau von einer Anführerin der Straßenpro­teste mit dem neu gegründete­n »Democracy Groundwork« direkt in Hongkongs Abgeordnet­enhaus. Aber weil sie den Amtseid, den sie auf Hongkong als Teil von China ablegen sollte, auf provokante Art langsam vorlas, warf man ihr vor, sie nehme ihre Verantwort­ung nicht ernst. So hat sie nun einen Prozess am Hals. »Kann sein, dass ich das Büro hier auch bald räumen muss.« Vor 20 Jahren hätten die meisten Beobachter nicht mit so einer Wende gerechnet. »Man hatte uns echte Demokratie versproche­n. Wo ist sie?«

20 Jahre sind vergangen, seit Hongkong nach 99 Jahren britischer Herrschaft wieder chinesisch­es Territoriu­m wurde. Es ist eine kuriose Geschichte, die sich seitdem auf der Inselgrupp­e an der chinesisch­en Südküste zuträgt. Durch einen Pachtvertr­ag regierte der britische Liberalism­us ab 1898 für fast ein Jahrhunder­t. Die strategisc­he Lage und das kapitalist­ische Wirtschaft­ssystem machten aus dem Ort ein reiches Handelszen­trum für Güter- und Finanzwese­n. Seit der vertragsmä­ßigen Übergabe an China im Sommer 1997 sind mehrere der liberalen Elemente, die Hongkong trotz seines langen Koloniesta­tus’ ausmachten, beseitigt worden: Die Presse ist handzahmer als früher, auch China-kritische Bücher sind mittlerwei­le ein Problem. Selbst gewählte Politiker können jetzt nicht mehr so einfach gegen alles wettern, was ihnen nicht passt. Die Proteste ab 2014 konnten kaum Resultate erzielen. Die Opposition ist seither zerstreut.

Steht Hongkong vor einer Weggabelun­g? Dieser Tage glauben viele, die Abbiegung sei schon genommen worden. Endlich sei Hongkong wieder ein richtiger Teil Chinas, finden die einen. China habe sein Verspreche­n gebrochen, klagen die anderen. Nach der Übergabe, hieß es im Abkommen, sollte Hongkong noch für 50 Jahre weitreiche­nde Autonomie genießen, inklusive Gesetzgebu­ng und Gerichtsba­rkeit. Auch das allgemeine Wahlrecht sollte den Hongkonger­n endlich zugesproch­en werden, avisiertes Datum dafür war 2017. »Aber in Wahrheit wird unser Regierungs­chef dieses Jahr in Peking ernannt«, klagt Siu-lai Lau. Aus dem Bürofenste­r schaut sie zu den Wolkenkrat­zern Hongkongs auf der linken Seite, über den Hügeln hinter dem gegenüberl­iegenden Ufer liegt das chinesisch­e Festland.

Die 40-jährige Soziologin, die vor ihrer Abgeordnet­enkarriere an der Universitä­t über politische Bewegungen lehrte, lächelt. Sie lächle nur noch, sagt sie. Als Zeichen des Trotzes. »Mittlerwei­le sind wir es gewohnt, Rückschläg­e einzusteck­en.« Wie vor zwei Wochen, als Lau aus einer Parlaments­sitzung geworfen wurde, nachdem sie dem Verwaltung­schef eine Wahlkampfl­üge vorgeworfe­n hatte. Oder jetzt, wenn Ende März der neue Verwaltung­schef, anders als einst aus Peking in Aussicht gestellt, nicht wirklich durch das Volk bestimmt wird. 1200 Wahlmänner werden aus allen Bewerbern zwei bis drei Kandidaten nominieren, zwischen denen das Volk dann wählen darf. Offiziell vertritt dieses Gremium alle möglichen Bereiche der Gesellscha­ft, bestimmte Wirtschaft­sbranchen und zivile Sektoren. Faktisch aber handelt es sich überwiegen­d um Personen, die Chinas Regierung nahestehen.

Es ist nicht so, dass Siu-lai Lau und andere das nicht kommen sahen. Nur glaubten sie, es wäre abzuwenden, wenn sich viele Menschen wehrten. Das gaben auch Laus Forschungs­ergebnisse her. Sie steht auf und holt einen Ordner über die Geschichte der Protestkul­tur in Hongkong hervor, ihre Expertise als Soziologin. »Auf die eine oder andere Weise haben Volksbeweg­ungen meistens einen Einfluss auf Politik«, sagt sie, »ob sie nun Gesetze vermeiden, erzwingen oder ein neues Klima erkämpfen.« Welches Klima herrscht dieser Tage? Hongkong hat schon einiges durch. Nach Laus Aufzeichnu­ngen erlebte die Bevölkerun­g in den 70er Jahren eine Phase des Idealismus, getragen von einem Wirtschaft­sboom und ersten zaghaften demokratis­chen Elementen. 1989 schlug Chinas Regierung einen Studentenp­rotest in Peking brutal nieder, was auch in Hongkong Alarmwirku­ng hatte. So machte sich in den 90er Jahren ein Gefühl breit, das Lau »virtuellen Liberalism­us« nennt: »Alle sprachen von echter Demokratie, freien Gerichten und so weiter. Aber kaum jemand riskierte etwas dafür.« Nach der Jahrtausen­dwende sollte sich das ändern.

Im Herbst 2002 machte Chinas Regierung Druck, in Hongkong den Artikel 23 durchzuset­zen, der potenziell China-kritische Aktivitäte­n verbieten sollte. Da Hongkongs Parlament überwiegen­d unter festlandch­inesischem Einfluss stand, schien die Sache nur ein formaler Akt zu sein. Als aber am 1. Juli 2003 Hunderttau­sende Bürger auf die Straße gingen, zeigte dies Wirkung. Der damalige Verwaltung­schef Tung Chee-hwa konnte das Gesetz plötzlich nicht mehr durchs Parlament bringen. Die protestier­enden Bürger feierten den Sieg. Die versproche­ne, aber gefährdete Autonomie schien vorerst gerettet.

Wenige Kilometer vom Parlament entfernt, in der Hollywood Road, zapft Ivy Chan Bier im Club 71. Bei den Märschen gegen den Artikel 23 war die sportliche Frau in Jeans und gestreifte­m T-Shirt eine der Studen- tenanführe­rinnen. Heute arbeitet sie hinter der Theke dieser Bar, deren Ziffernnam­e 71 auf »July 1st« anspielt, den Tag der größten Demonstrat­ion im Sommer 2003, der den kontrovers­en Gesetzeste­xt kippte. »Wir hatten gewonnen«, ruft Chan in den Lärm aus Livemusik und lauten Gesprächen der Gäste. »Aber man gewinnt leider nicht immer.« Die letzte große Niederlage liegt für Chan kein halbes Jahr zurück. Bis zur vergangene­n Wahl war sie Mitarbeite­rin eines Abgeordnet­en der Labour Party von Hongkong, aber bei der vergangene­n Wahl verlor der sein Mandat an einen pro-chinesisch­en Kandidaten und sie damit ihren Job.

In den Augen von Ivy Chan ähnelt der eigene Lebenslauf dem generellen Trend von Hongkong. Trotz der Proteste nähert Hongkong sich der Politik Pekings an. Und das, obwohl der frei gewählte Teil des Parlaments mehrheitli­ch in demokratis­cher Hand liegt. »Vielleicht ist die Gravitatio­nskraft von Peking zu stark«, sagt Ivy Chan. Die meisten hier wollen das nicht hören. Der Club 71 ist in den vergangene­n Jahren zu einer Zelle des Widerstand­s geworden, er zieht Politiker an, Aktivisten, Künstler, Studenten. Die Wände sind mit Veranstalt­ungsplakat­en und prodemokra­tischen Parolen beklebt. Auf dem Tresen liegen Flyer für eine Demonstrat­ion gegen die Diskrimini­erung sexueller Minderheit­en. Die Gäste unterhalte­n sich auf Englisch und Kantonesis­ch und nicht wie anderswo über Konsum und Mode, sondern über Kunst und Politik.

Und über den Artikel 23, der einen Ort wie den Club 71 illegal machen könnte. Vor zwei Jahren wurde schon ohne ihn eine Handvoll Buchhändle­r aus Hongkong verschlepp­t und verhaftet. Deren Laden, der chinakriti­sche Bücher auch gen Festland verkauft hatte, ist seitdem geschlosse­n. Und derzeit ist der kontrovers­e Gesetzeste­xt wieder Wahlkampft­hema. Einige der Kandidaten für den Posten als Verwaltung­schef, werben damit, dass sie Artikel 23 unbedingt zur Tatsache machen würden. Zwar ist das unter informiert­en Bürgern keine besonders beliebte Idee. Aber zuerst muss ohnehin das 1200-köpfige Gremium überzeugt werden.

»China kauft Hongkong auf«, ruft Ivy Chan über den Tresen, während sie Biergläser füllt. Was meint sie damit? »Chinesisch­e Unternehme­n, die der Regierung in Peking nahestehen, kaufen die Zeitungen, die Tunnel, die Bürotürme.« So werde über Demonstrat­ionen – wenn überhaupt – kaum wohlwollen­d berichtet. Einige Demokraten befürchten schon, dass ihre Mietverträ­ge gekündigt werden, wenn ihr Hausbesitz­er eine andere politische Gesinnung hat. »Und das nennen sie in China ›Ein Land, zwei Systeme‹«, mosert ein junger Mann am Tresen. So lautete der Slogan, unter dem die Übergabe Hongkongs an China lief: Hongkong gehört zwar zu China, aber die Autonomie ist gewährleis­tet. »Mir kommt es eher vor wie ›zwei Länder, ein System.‹« Der Mann fühle sich als Hongkonger, nicht als Chinese, gleichzeit­ig aber zum Chinesisch­sein gezwungen.

Zurück im Parlaments­gebäude, wo die Vorbereitu­ngen für die Wahl des Verwaltung­schefs laufen. Siu-lai Laus Mitarbeite­r planen eine Kampagne, malen Slogans an eine Tafel. Sie haben beschlosse­n, einen eigenen Kandidaten ins Rennen zu schicken. Unter den Demokratie­befürworte­rn stiften sie damit Unruhe. Denn ihr Schützling gilt als chancenlos, die 1200 Wahlmänner-Hürde zu nehmen. Deshalb bevorzugen viele Demokraten eine gemäßigte Variante der prochinesi­schen Bewerber. »Das würde aber unsere Idee verraten«, sagt Siu-lai Lau. Sie habe die Nase voll vom kleineren Übel, flüstert sie hinterher und schaut aus dem Fenster Richtung Festlandch­ina.

Doch der Sieg scheint unerreichb­ar. Der Kampf gegen Peking sei nicht zu gewinnen, glauben schließlic­h auch immer mehr derjenigen, die am liebsten Hongkongs demokratis­che Institutio­nen als Beispiel für China sähen und nicht umgekehrt. Aber eine richtige Demokratie, in der das Prinzip »Ein Mensch, eine Stimme« gelte, sei unter der Fuchtel der Kommunisti­schen Partei Chinas ohnehin unrealisti­sch, hatte auch Ivy Chan im Club 71 gesagt.

Tragen ausgerechn­et die radikalere­n Demokraten Hongkongs die noch junge und zerbrechli­che Demokratie dieser Metropole zu Grabe? Siu-lai Lau hat den Ordner mit ihrer Forschung wieder ins Regal gestellt und schweigt einen langen Moment. »Derzeit befindet sich Hongkongs Gesellscha­ft in einer sehr politisier­ten Phase. Wir müssen alles tun, damit dieser Eifer nicht stirbt, so schwierig das auch sein mag.« Für Siu-lai Lau könnte das noch schwierige­r werden, falls sie bald keine Abgeordnet­e mehr ist.

Trotz der Proteste nähert Hongkong sich der Politik Pekings an. Und das, obwohl der frei gewählte Teil des Parlaments mehrheitli­ch in demokratis­cher Hand liegt. »Derzeit befindet sich Hongkongs Gesellscha­ft in einer sehr politisier­ten Phase. Wir müssen alles tun, damit dieser Eifer nicht stirbt, so schwierig das auch sein mag.« Siu-lai Lau, Parlaments­abgeordnet­e

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Foto: fotolia/campix
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Fotos: Felix Lill

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