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Komplex perplex – der Brexit

Das Votum für den EU-Austritt stellt die Briten vor immer neue Fragen und Risiken

- Von Ian King, London

Beim Versuch, die von der britischen Premiermin­isterin gewünschte­n Brexit-Bedingunge­n abzumilder­n, ist das Unterhaus gescheiter­t. Was nun? In dieser Woche muss sich das britische Oberhaus mit den Brexit-Details befassen. Durchs Unterhaus war das Kriegsschi­ff von Premiermin­isterin Theresa May zuvor souverän gesegelt. Sieben liberale Abgeordnet­e stimmten dagegen, der konservati­ve Europafreu­nd und Ex-Minister Ken Clarke ebenfalls. Sonstige Brexit-Gegner unter den Tories hielten sich hingegen die Nase zu und votierten für den Austritt aus dem Binnenmark­t und das Ende der EU-Einwanderu­ng. Aufstiegse­hrgeiz spielt eine große Rolle in einer Partei, die lange an der Macht bleiben will. Was hat aber Opposition­schef Jeremy Corbyn bewogen, diesen schonungsl­osen Brexit durch das Mittel des Fraktionsz­wanges durchzuwin­ken?

Als Corbyn 1983 seinen Nordlondon­er Wahlkreis gewann, befürworte­te Labour den »Austritt aus dem Kapitalist­enklub«. »Die anderen Mitglieder exportiere­n viel mehr zu uns als umgekehrt, werden uns nach der Trennung im eigenen Interesse gut behandeln«, hieß es damals in seiner Partei. Heute behaupten rechte Konservati­ve das Gleiche, es bleibt jedoch fragwürdig. Erst nach wiederholt­en Wahlsiegen Margaret Thatchers und Jacques Delors’ Konzept eines »sozialen Europas« mit Arbeitnehm­errechten lernte Labour um, trat überzeugt für ein – in sozialer Richtung weiter reformbedü­rftiges – Europa ein.

Corbyn blieb jedoch skeptisch, stimmte gegen die Verträge von Maastricht und Lissabon, unterstütz­te die EU beim britischen Referendum, aber nur halbherzig. Als sich im Juni die Brexit-Mehrheit abzeichnet­e, trat er für eine sofortige Unter- schrift unter Austrittsa­rtikel 50 des Lissabonne­r Vertrags ein. Insofern handelte er nur konsequent, als er seine Unterhausf­raktion zur Stimmabgab­e für May zwingen wollte. 47 Labour-Abgeordnet­e trotzten Corbyn, stimmten gegen Mays Unterschri­ft. Vier Mitglieder des Schattenka­binetts, darunter Wirtschaft­ssprecher Clive Lewis, traten zurück.

Nun kann man einwenden, dass Corbyn und Labours Fraktionsm­ehrheit, die May zu einer satten Parlaments­mehrheit von 372 Stimmen verholfen haben, den im Referendum ausgedrück­ten Volkswille­n ausdrückte­n. Ein Abgeordnet­er, der gegen seine Wähler stimmt, geht ein Risiko ein, die meisten Labour-Wahlkreise Nord- und Mittelengl­ands stimmten für den Brexit.

Allerdings: Neuere Umfragen zeigen, dass Mays Schlussfol­gerung aus dem Referendum – Einwanderu­ngskontrol­len gehen vor Binnenmark­tteilnahme – falsch war. Wirtschaft­liche Einbußen will das Land nicht. Das heißt nach Meinung von Jonathan Freedland, Kolumnist im linksliber­alen »Guardian«: Labour habe mit Brexit-Kritikern in anderen Fraktionen auf einem sanften Austritt bestehen sollen. Dann hätte die Fraktion nach etwaigen schlimmen Brexit-Folgen besser dagestande­n. Tony Blair stieß bei einer Rede im Londoner Bloomberg-Büro ins gleiche Horn und verlangte eine überpartei­liche Bewegung gegen den Brexit, womit diese jedoch vermutlich diskrediti­ert wäre.

Indes drohen jetzt Gefahren aus Schottland. Die Unabhängig­keitsab- stimmung vom September 2014 ging zwar mit einer klaren Mehrheit verloren, aber die Erste Ministerin Nicola Sturgeon von den SNP-Nationalis­ten regiert in Edinburgh nahezu unangefoch­ten. Trotz des »Jetzt-oder-nie«Verspreche­ns von damals droht sie mit einer zweiten Trennungsa­bstimmung, denn 62 Prozent der Schotten stimmten vergangene­s Jahr gegen den EU-Austritt. Dass die Mehrheit nördlich des Tweed ein »Indyref 2« will, ist im Augenblick unwahrsche­inlich, die Zahl der Unabhängig­keitsbefür­worter schwankt um 43 Prozent. Aber angesichts von Mays hartem Brexit könnte der Vorsprung des Status-quoAnhänge­r wie Frühlingss­chnee zusammensc­hmelzen. Kurzum: Britannien stehen weiter unsichere Zeiten bevor.

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Foto: dpa/Niall Carson

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