Mit Poesie die Welt retten
Man könnte meinen, bei den diesjährigen 67. Internationalen Filmfestspielen Berlin sei es zugegangen wie gehabt: Volker Schlöndorff ging leer aus, Aki Kaurismäki hatte wie immer einen sitzen, Künstlerinnen und Künstler standen auf Bühnen herum und stammel
Preise sind immer ein Risiko. Für den, der sie vergibt, ebenso wie für den, der sie bekommt. Es gibt keine Gerechtigkeit dabei. Man wählt nicht nur aus, man erwählt jemanden. Das ist und bleibt ein sehr subjektiver Akt.
Natürlich setzt die Ungerechtigkeit, die darin liegt, den einen auszuzeichnen und den anderen nicht, sofort Emotionen frei: Warum dieser und nicht der? Und schon wird es für alle unangenehm. Die Berlinale mit über 400 gezeigten Filmen, achtzehn davon im Wettbewerb, macht da jedes Jahr aufs Neue keine Ausnahme.
Und doch ist der Ton in diesem Jahr spürbar anders, zurückgenommener – auf der Leinwand und nun auch bei der Preisverleihung. Festivaldirektor Dieter Kosslick spricht davon, »die Welt mit Poesie retten« zu wollen. Ein illusionärer Anspruch, gewiss, doch vielleicht ein notwendiger für die Kunst. Die besondere Art der Wettbewerbsfilme dieses Jahrgangs bestätigt ihn.
Es gab schon Berlinalen, da wurden von Film zu Film grellere Botschaften gesendet. Der Film selbst, na ja, mehr Mittel zum Zweck, aber die gute Absicht! Das stellte sich in diesem Jahr anders dar. Schon die Auswahl der meisten Filme war von einer radikalen Ästhetik bestimmt. Und dieses Prinzip bestätigt sich nun in der Vergabe der Bären.
Mancher oder manche wurde offenbar völlig davon überrascht, dass die Jury unter Vorsitz des niederländischen Regisseurs Paul Verhoeven sie ausgewählt hatte. So ging der Silberne Bär für eine herausragende künstlerische Leistung an Dana Bunescu, für den Schnitt des rumänischen Beitrags »Ana, mon Amour«. Sie konnte, überwältigt vom Augenblick, bloß ein »Danke« stammeln. Das scheint mir in solcher Situation eine erwartbare Reaktion, jedoch unter Show-Aspekten – schließlich moderierte Anke Engelke als Garant für den Sendeplatz der Live-Übertragung auf 3sat – ist das offenbar zu wenig.
Auch Aki Kaurismäki brachte gerade so ein »Thank you!« zustande, auf die Bühne zu kommen oder irgendetwas Sinnvolles zu sagen schaffte er nicht – offenbar hatte er den Drink danach bereits davor genommen. Kosslick und Engelke, die bereits etwas geahnt haben mussten (jeder, der Aki Kaurismäki kennt, weiß um seine unheilvolle Beziehung zum Alkohol), liefen fast von der Bühne herunter hin zu seinem Platz, um ihm blitzschnell den Silbernen Bären für die beste Regie in die Hand zu drücken. Zugestellt wie ein Einschreiben mit unangenehmem Inhalt! In solchen Fällen erweist sich dann das Comedy-Talent von Anke Engelke als nützlich: »Wenn der Mann nicht zum Bären kommt, dann kommt der Bär zum Mann.«
Da ist Kaurismäki, dieser Schöpfer großer minimalistischer Filme, in denen oft ein ebenso verheißungs- wie unheilvolles Schweigen herrscht, gerade noch mal an einer peinlichen Szene vorbeigeschrammt. Sein Film »Die andere Seite der Hoffnung« ist still und bildstark, setzt seine Vorgängerfilme »Der Mann ohne Vergangenheit« und »Le Havre« auf konsequente Weise fort. Ein Flüchtlingsdrama, aber das trifft die Intention von Kaurismäki nur in einer ganz bestimmten Hinsicht. Für ihn ist jeder Mensch ein Flüchtling, einer, der – vergeblich – eine Zuflucht sucht.
Doch wohin führt die Emigration aus dem falschen Leben? Für den Krawattenhändler Wikström, der das Kapitel Kaufen und Verkaufen in seinem Leben beenden will, öffnet sich eine Tür zu Khaled, der mit einem Kohlefrachter nach Helsinki kam. Nun trifft ihn Wikström bei den Mülltonnen. Das sind meine Tonnen!, sagt er dem dort Liegenden. Das ist mein Schlafplatz!, hält Khaled dagegen und haut dem lebensunlustigen Geschäftsmann zur Bekräftigung dieser Aussage kraftvoll auf die Nase. So beginnt die Freundschaft zweier ungewöhnlicher Menschen, die ihre Melancholie verbindet, die sie überall zu Außenseitern macht. Unschwer lässt sich hier das Lebensthema Kaurismäkis erkennen.
Um die verschiedenen Grade der Trunkenheit geht es auch in dem koreanischen Beitrag »On the Beach at Night Alone« von Hong Sangsoo. Kim Minhee erhielt den Silbernen Bären als beste Hauptdarstellerin. Sie spielt eine Schauspielerin auf der Flucht vor sich selbst – nur wohin, weiß sie nicht. Sie trinkt, mal etwas zu viel, mal viel zu viel, und verhält sich entsprechend. Keiner aus ihrer Umgebung, der von ihr nicht schon beleidigt wurde. Doch dann geht sie auf die Suche nach etwas, das ihr hilft, anders zu werden. Dieses Etwas, so weiß sie, muss von innen kommen.
Den Silbernen Bären als bester männlicher Hauptdarsteller erhielt Georg Friedrich, den man wegen seines Wienerischen Schmähs, der bei ihm immer etwas Verkommen-Abgründiges hat, als Österreicher vom Dienst von Castorfs Volksbühne her kennt. Er erhielt den Preis ausdrücklich für seine Rolle als Vater in Thomas Arslans »Helle Nächte«, der auf unorthodoxe Weise die Beziehung zu seinem Sohn zu retten versucht – und nicht für seinen hinreißenden Part als zwielichtiger Mann vom Prater in Josef Haders »Wilde Maus«, dieser auf wundervolle Weise bitterbösen Medienkritik, die leider ebenso leer ausging wie Volker Schlöndorffs elegisch-schöne »Rückkehr nach Montauk«. Aber, auch dieses Jahr gilt: Gibt man dem einen den Preis, enthält man ihn dem anderen vor.
Der Goldene Bär ging an den ungarischen Beitrag »Teströl és lélekröl« (»Körper und Seele«) von Ildikó Eneydi, einen Film, der einen in einen eiskalten Rausch versetzt. Welch minutiös gearbeitete Szenenfolge, die keinerlei stimulierende Substanzen benötigt, um schließlich den beiden verlorenen Seelen sehr unaufdringlich den Weg zu zeigen, anders in der Welt zu sein!
Eine junge Frau und ein älterer Mann, zaghaft, schüchtern, vorsichtig tastend, tief unsicher und in den eigenen Traumwelten wie eingesperrt, wagen Schritt für Schritt das größte Abenteuer ihres Lebens: das eigene Schutzschild vor dem anderen sinken zu lassen, nicht mehr permanent wachsam zu sein, sondern sich – momentweise – hinzugeben. Man könnte es Liebe nennen, inmitten der bizarr-brutalen Szenerie eines Schlachthofes, in dem beide arbeiten. Ein großer Film, aus lauter kleinen tastenden Gesten und Andeutungen gebaut. Unendlich zurückhaltend, jede verkündende Geste meidend – und gerade darin tief menschlich.
Unpolitisch waren sie dann nicht, die Preisträger in ihren Dankesreden. Selten war so viel Besorgnis spürbar wie dieses Jahr. Die große Dame des polnischen Films, Agnieszka Holland, die für »Pokot«, einen Film über unseren ungesunden Umgang mit der Natur, den Alfred-Bauer-Preis bekam, sprach es dann aus. Wir, die wir in schwierigen Zeiten leben, bräuchten nichts so dringend wie »neue Perspektiven«, sagte sie.
Der Wettbewerb dieses BerlinaleJahrgangs erwies sich selbst als so eine dieser neuen Perspektiven: Filme mit einer Vision, die aus ihnen selbst erwachsen, sie darum so stark machen.
Eine Frau und ein Mann, schüchtern, unsicher. Man könnte es Liebe nennen, inmitten der bizarren Szenerie eines Schlachthofes, in dem beide arbeiten.