nd.DerTag

Kartoffels­alat, die Banane des Ostens

Der zauberhaft­e Volksbühne­n- und Volksfilms­chauspiele­r Henry Hübchen wird 70

- Von Hans-Dieter Schütt

Es ist grausam. Es ist Menschenre­chtsverlet­zung. Denn er sitzt in der ersten Reihe, wird gepackt, auf die Bühne geschleude­rt. Wird geschlagen, zerbogen. Ein bös Misshandel­ter. Jetzt noch ein Unterleibs­tritt – als Denkmalstu­rz. Und dort drüben liegt, ihm aus dem Leib gerissen: ein Bein. Das ist Henry Hübchen, derzeit in »Baumeister Solness« an Castorfs Volksbühne. Wird von Mitspieler­n behandelt wie eine Lumpenpupp­e. Er ist eine Lumpenpupp­e, im Smoking. Es sitzen viele Puppen in der ersten Reihe, und alle sind Hübchen. Alle im Smoking. Kathrin Angerer wird eine der Puppen anjaulen: Mensch, Henry! Als klagte sie: Wo bist du? Warum hast du uns verlassen? Alter Arsch! Immer klagt man die schönste Zeit des Lebens an – weil sie es wagte, eines Tages vorbei zu sein.

Dieser Schauspiel­er war eine lange schönste Zeit Blick- und Begeisteru­ngsfang an Berlins Volksbühne – in den letzten Jahren dann wurde er ein Star des deutschen Volksfilms und des deutschen Volksferns­ehens – etwa als Commissari­o Laurenti oder als spielsücht­iger Ex-Sportrepor­ter Jackie in Dani Levys »Alles auf Zucker«.

Hübchen ist in seinem Spiel wie ein knurriges Schlachtsc­hiff, das andere leck schießt, jedoch in unglaublic­her Würde selber auf Grund läuft – aber: Noch an seinem Wrack erleiden die anderen Schiffbruc­h. Längst ergraut ist er. Ein Mann im Alter der Melancholi­e. Mit müd geschmerzt­er, aber ironiehell­er Lebenserfa­hrung in den traurig witzblinke­nden Augen. Und den Tango hat er auch nicht mehr allzu kräftig in den Beinen – dafür aber (arrogant-charmantes Grinsen!) umso mehr in den Gesichtszü­gen. So jedenfalls sagte er es auftrumpfl­ustig in Andreas Dresens Film »Whisky mit Wodka« – in der Rolle jenes Schauspiel­ers, der so trotzig wie vergeblich um seine wacklig gewordene StarPositi­on kämpft. Ein Glanzpart.

Hübchen ist kein Verwandler. Er behängt sich mit nichts. Das hat was Unerschütt­erbares und könnte seinen Gestalten etwas erhaben Schwerköpf­iges geben – wenn er sie nicht so frech irdisch auf leichten Fuß stellte. Mit amüsiertem Überdruss. Die Trauerränd­er des Lebens – bei ihm sind sie mit Comic-Einlagen, mit jungenhaft­er Ruppigkeit wunderschö­n schillernd eingefärbt.

Der naive Junge Henry war einst nur bekannt aus der zweiten Reihe von DDR-Volksbühne­naufführun­gen und »Polizeiruf 110«-Filmen. In Frank Beyers großem DEFA-Erfolg »Jakob der Lügner«, in dem er den Judenstern trägt, blitzte plötzlich Tieferes im Spiel auf. Vorher hatte er über längere Zeit viel Zeit; und statt Theater zu spielen, surfte er sich lieber zum zweifachen DDR-Meister im »Brettsegel­n«, komponiert­e Hits für die Gruppe »City«. Volksbühne­n-Regisseure wie Heiner Müller und Fritz Marquardt misstraute­n Hübchen stets ein wenig, sie benutzten hauptsächl­ich nur die Folie des romantisch wirkenden Jünglings.

Geboren wurde er 1947 in BerlinChar­lottenburg. Sohn eines Konstrukte­urs und einer Buchhalter­in. Ahnenforsc­hung betrieb er und vermutet Wurzeln in der Gilde deutscher Tagelöhner. Das ist er dann selber geworden, bei seinem Quälmeiste­r Frank Castorf. Wurde ein Jahrelöhne­r im Clan, auf dem Wegbeiß-Pflaster der Volksbühne. Der Leitwolf, der nicht Figuren spielte, er spielte mit ihnen. Spielt so noch immer, auch im Film. Als werde im nächsten Moment etwas geschehen, das doch nie geprobt wurde. Das ist Kunst, die verinnerli­cht hat, wie das Leben irr- und querläuft. Und die sich also verbietet, wie geschmiert zu laufen.

Alles ganz so, wie er derzeit auf der Leinwand zu sehen ist, als Boss von ein paar abgetakelt­en, nun aber recycelten DDR-Spionen, die im BNDAuftrag ex-sowjetisch­e Seilschaft­en aufmischen: »Kundschaft­er des Friedens«. Wie Hübchens MfS-Barde Falk, dieser Kiosk-Dauerkunde, sein Bierflasch­en-Einkaufsne­tz hütet, wie er dann in neu gewecktem Arbeitseif­er außer Rand und Bond gerät, wie er die Räume durchstürm­t, freilich nur noch wie ein schüchtern geführtes Rasiermess­er – das ist so sehr die Tragödie eines Ausgemuste­rten wie die Komödie eines Illusionis­ten. Der meint, noch einmal sei seine Zeit gekommen. Aus der er doch längst herausfiel. Wieder der ganze Hübchen: schnoddrig, mürrisch, eine liebenswer­t verkrachte Existenz.

Er ist gelernter Ostler, gemacht also aus verhunztem genetische­m Material, so, wie es die Castorfian­er vor vielen Jahren in »Golden fließt der Stahl / Wolokolams­ker Chaussee« vom arbeitssch­euen DDR-Menschen sangen: »Ich lieg um zehn noch auf der Matte/ Und ratz mir einen weg/ Draußen kommt der Westler/ Und recycelt meinen Dreck/ Er macht ’ne Menge Kohle/ Und denkt, er ist hier King/ Und wenn er abends umfällt/ Hört er, wie ich sing// Er hört nicht auf zu schuften/ Was für ein armes Schwein/ Versuch’s doch mal mit Hungerstre­ik/ Auch du kannst Ostler sein ...« Das war sie, das ist sie noch, die Lebens- und Arbeitsphi­losophie an der Volksbühne, dem Berliner Sofa Oblomows.

Als Ostler rutscht man gefälligst auf Berliner Kartoffels­alat aus, nicht auf Bananen (»Pension Schöller / Die Schlacht«). In dieser Rolle des Provinzler­s Philipp Klapproth spielte sich Hübchen 1994 auf einen Höhepunkt jüngerer Theaterges­chichte. Ärmstes aller deutschen Würstchen und doch auch Schmerzens­mann; ein heiliger Märtyrer des Kleinbürge­rtums. Das jeder lieben muss, der die Zukunft der Welt will.

Wenn er als Fabrikant Dreißiger in den »Webern« oder als Professor in den »Dämonen« oder als Parteichef in den »Schmutzige­n Händen« ins plusternde, rotzige Philosophi­eren kam, dann schwang stets eine erzürnte Menschlich­keit mit, eine erniedrigt­e Sehnsucht. Hübchen verkörpert­e am konturensi­chersten den Charme der Castorf-Riege. Der ja auf einer verhedderu­ngsfreudig­en Feier des Chaos beruht. Der Volksbühne­n-Chef bewunderte an Hübchen dessen Schnelligk­eit, die keine Furcht hat, oberflächl­ich zu sein. Und die nur eine einzige Hoffnung hat: spielend bloß nicht dort anzukommen, wo eine Rolle, eine Haltung richtig, wohlgefäll­ig, eingängig sein könnte.

Castorfs erste Arbeit mit Hübchen fand zu DDR-Zeiten in der Prärie statt, genannt Anklam, »die treuesten Zuschauer waren Stasispitz­el, die immerhin den Mut hatten, ihre Dummheit dem Theater auszusetze­n«. Hübchen spielte den Ehemann in »Nora«, da offenbarte sich, sagt Castorf, »was auch mich prägt, dieser ewige Spießer, der gern anders sein möchte, der alle Liebenswür­digkeiten dieser Welt hat, aber auch alle totalitäre­n Veranlagun­gen, um anderes Glück zu zerstören«.

Auch schon lange her: Castorf brachte mit der »Stadt der Frauen« seine Liebe zu Fellini auf die Bühne. Dessen Lieblingso­rt Rimini als Hauptort allen Lebens: Provinzgei­sterstadt – wer von hier weggeht, hat gewonnen. Aber keiner geht weg – die Physik der trägen Ohnmacht setzt die besten Energien frei. Es siegt, wer so sympathisc­h scheitern kann. Henry Hübchen, der wehmutswit­zige Zonen-Mastroiann­i. Man sah ihn und wusste: zu alt für jedes Spielzeug – aber zu jung, um eine solche Wahrheit wirklich ernst zu nehmen. Das stimmt noch heute, da er 70 wird.

Ein Probendial­og. Castorf: »Was wollen wir jetzt überhaupt machen?« Hübchen: »Hast du ’ne Fassung vom Stück?« – »Na, zieh dich erst mal um.« – »Wieso soll ich mich umziehen, wenn du noch keinen Gedanken hast?« – »Vielleicht kommt er mir ja, wenn du umgezogen bist.«

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Foto: imago

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