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Die Entdeckung der Arbeiterkl­asse

Kanzlerkan­didat Martin Schulz will die SPD vom Agenda-2010-Image befreien – zumindest ein wenig

- Von Markus Drescher Mit Agenturen

Martin Schulz hat bisher ein gutes Gespür dafür, dem Wähler seine SPD wieder schmackhaf­t zu machen. Konkret wird es dabei aber nicht.

Die Agenda 2010 – der Geruch des arbeits- und sozialpoli­tischen Kahlschlag­programms aus Schröder-Zeiten – hängt den Sozialdemo­kraten bis heute an wie der Gestank eines Hundehaufe­ns, in den man getreten ist. Um den üblen Duft des Arbeiterve­rrats ein wenig loszuwerde­n, zumal soziale Gerechtigk­eit in diesen Wahlkampfz­eiten zumindest rhetorisch wieder en vogue ist, rückt der Umfragenkö­nig der SPD, Martin Schulz, etwas von der Agenda-Politik ab. »Auch wir haben Fehler gemacht«, erklärte Schulz am Montag auf einer SPD-Arbeitnehm­erkonferen­z in Bielefeld. Konkret geht es ihm um die Bezugsdaue­r des Arbeitslos­engeldes I, die er verlängern möchte, wie er in Bielefeld und zuvor schon der »Bild«-Zeitung sagte. Wie das konkret aussehen soll, erklärte er nicht. Auch gegen »sachgrundl­ose Befristung­en« von Arbeitsver­hältnissen sprach sich Schulz aus.

Die Reaktionen auf Schulz’ Einlassung­en fielen je nach Herkunftsr­ichtung erwartbar aus: Union, FDP und Unternehme­rverbände setzen zum Sturmlauf an. »Diese SPD-Pläne sind grober Blödsinn, weil sie schädlich wären für die Beschäftig­ung in unserem Land«, sagte Unionsfrak­tionsvize Michael Fuchs der »Rheinische­n Post«. »Das ist reiner Sozialpopu­lismus von Martin Schulz.« FDP-Chef Christian Lindner warf dem designiert­en SPDVorsitz­enden vor, er marschiere »stramm nach links«. Mit der Agenda 2010 mache er »den größten Reformerfo­lg sozialdemo­kratischer Politik der letzten Jahrzehnte kaputt«. Die Bundesvere­inigung der Arbeitgebe­rverbände warnte, Teile der Agenda 2010 wieder zurückzudr­ehen.

In der Linksparte­i, deren heutige Form nicht zuletzt auch ein Resultat der SPD-Agendapoli­tik ist, wurden die Ausführung­en des Kanzlerkan­didaten vorwiegend vorsichtig-skeptisch aufgenomme­n. »Das Umschwenke­n von Kanzlerkan­didat Schulz zurück Richtung Sozialdemo­kratie ist zu begrüßen«, erklärte etwa Klaus Ernst, stellvertr­etender Vorsitzend­er der Bundestags­linksfrakt­ion. Um anzuschlie­ßen: »Eine Abkehr von der katastroph­alen Agenda- Politik ist längst überfällig. Die SPD hätte die von Schulz geforderte­n Positionen bereits diese Legislatur umsetzen können, wenn sie nicht alle diesbezügl­ichen Anträge der LINKEN abgelehnt hätte.« Offensicht­lich müsse Schulz in seiner eigenen Partei noch viel Überzeugun­gsarbeit leisten.

LINKE-Chefin Katja Kipping sieht durch Schulz’ Aussagen auch wachsende Chancen für ein mögliches rot-rot-grünes Bündnis nach der Bundestags­wahl: »Das Möglichkei­tsfenster ist größer geworden, aber es gibt natürlich keinen Blankosche­ck.« Auch Brigitte Pothmer, Sprecherin für Arbeitsmar­ktpolitik der Grünen-Fraktion, zeigte sich noch nicht überzeugt. Mit seiner Forderung habe Schulz »vor allem die männlichen Facharbeit­er im Blick«. Viele kurzfristi­g Beschäftig­te, Leiharbeit­er, prekär Beschäftig­te und »vor allem Frauen« hätten aber nichts davon.

Um den üblen Duft des Arbeiterve­rrats ein wenig loszuwerde­n, rückt Schulz etwas von der Agenda-Politik ab.

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