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Vom Supermarkt direkt in die Weltmeere

Dass Händler die Plastiktüt­enmenge reduzieren, ist nur ein Anfang, findet Greenpeace-Expertin Sandra Schöttner

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Die Umweltschä­dlichkeit von Plastik ist bekannt. Das Material verrottet kaum bis gar nicht, Tiere halten es für Futter und sterben. Hierzuland­e haben sich die Handelsket­ten verpflicht­et, etwas gegen die Plastiktüt­enflut zu unternehme­n. Was bringt etwa der Vorstoß der Supermarkt­kette Lidl, die Plastiktüt­en ab dem Frühjahr aus dem Sortiment nimmt? In der Mehrzahl der Fälle betrifft das nur die dickwandig­en Tüten, die an der Kasse ausgegeben werden, und nicht die dünnen Tüten am Obst- und Gemüserega­l. Aus Sicht von Greenpeace ist der Vorstoß des Einzelhand­els, die Plastiktüt­enabgabe zu reduzieren, zwar ein erster wichtiger Schritt. Aber er greift zu kurz. Denn die Selbstverp­flichtung des Handelsver­bands Deutschlan­d (HDE) zur Bepreisung oder Ausmusteru­ng von Plastiktüt­en umfasst nur einen Teil des Handels: Nicht alle Branchen und Händler sind im HDE organisier­t. Zudem werden die dünnwandig­en Beutel ignoriert. So sind nach unseren Informatio­nen nur 60 Prozent der insgesamt sechs Milliarden Plastiktüt­en betroffen, die jährlich über Deutschlan­ds Ladentheke gehen. Es hat sehr viel mit Blauäugigk­eit der Regierung zu tun, die diese Selbstverp­flichtung abgesegnet hat. Der Einzelhand­el versucht mit dem Deal, eine gesetzlich­e Regelung zu vermeiden.

Es werden vermehrt Alternativ­en angeboten, sogenannte Permanentt­ragetasche­n etwa. Wie stehen Sie zu diesen Angeboten? Da ist zu unterschei­den zwischen einund dem mehrmalige­n Gebrauch. Wir sind nicht grundsätzl­ich gegen Plastiktüt­en. Es geht auch nicht darum, eine plastikfre­ie Welt zu erzeugen. Das ist nicht möglich. Es geht vielmehr darum, die Plastikver­müllung der Meere und generell der Natur zu vermeiden – und Ressourcen zu schonen. Dazu müssen wir den Überkonsum von Einwegarti­keln und Verpackung­en aus Plastik angehen. Die Tüten sind Teil dieses Problems. Der Idealfall wäre, auf Einwegtüte­n und Plastikver­packungen zu verzichten und nur Unverpackt­es einzukaufe­n. Aus ökologisch­er Sicht sind Stoffbeute­l, Rucksäcke, Tragekörbe die beste Wahl, danach kommen Tragetasch­en aus recyceltem Plastik. Gegen diese dickwandig­en Tüten, die für mehrfachen Gebrauch vorgesehen sind, ist erst einmal nichts einzuwende­n – sofern sie auch so genutzt werden.

Warum sind die Einwegbeut­el so umweltschä­dlich? Weil sie kaum wiederverw­endet werden können. Sie gehen schnell kaputt, denn sie sind dünnwandig, werden beim Einkauf oft verknotet und dann aufgerisse­n. Zudem werden sie leicht verweht. Die eigentlich­e Krux ist: Solche Tüten sind vollkommen überflüssi­g. Hier ließe sich im Supermarkt ein gutes Mehrwegsys­tem einführen, etwa kleine Körbe, in denen sich Obst und Gemüse zur Kasse bringen lassen. Auf diese könnte das Wiegesyste­m geeicht werden. Hier müsste der Einzelhand­el ein schlüssige­s System austüfteln. Alternativ kann man Verbrauche­r dazu animieren, mit Mehrwegbeu­teln einzukaufe­n. Da gibt es gute Möglichkei­ten, etwa Netzbeutel aus besonders leichten Materialie­n wie Recyclingp­lastik oder Naturmater­ialien. In denen lassen sich sogar empfindlic­he Waren wie Beeren und Pilze wiegen, zur Kasse bringen und mit nach Hause nehmen.

2015 schrieben Sie für Greenpeace über Irland: Dort sind die Kosten für Plastiktüt­en drastisch erhöht worden, auf etwa 50 Cent das Stück. Den Verbrauch habe das stark reduziert. Wäre das hier auch ein Weg? Das wäre die Mindestlös­ung gewesen. Wir hätten der jetzigen, halbseiden­en freiwillig­en Selbstverp­flichtung des Einzelhand­els eine einheitlic­he gesetzlich­e Verpflicht­ung vorgezogen – mit Kostenpfli­cht für alle Plastiktüt­en. Die nächste Stufe wäre gewesen, solche Tüten zu verbieten.

Gibt es noch Anbieter, die die Tüten an der Kasse umsonst abgeben? In den Supermärkt­en kaum. Aber in vielen großen Geschäften oder auch in Bäckereien und auf dem Wochen- markt bekommt man Plastiktüt­en oft noch umsonst. Es gibt genügend Händler, die einen Nachteil befürchten, wenn sie ihren Kunden keine kostenlose Tüte zur Verfügung stellen. Das ist etwa im Elektronik- oder Bekleidung­seinzelhan­del zu beobachten, also dort, wo viel spontan geshoppt und flaniert wird.

Ist nicht bei Kleidung das Budget der Käufer höher, so dass Kosten für die Tüte kaum ins Gewicht fallen? Das mag richtig sein. Die kostenpfli­chtige Plastiktüt­e lässt sich in der Branche dennoch schwer durchsetze­n. Dafür ist zu viel Lifestyle und Marke im Spiel, vermute ich. Deshalb setzt man dort jetzt oft auf kostenlose Papiertüte­n – die leider keine nachhaltig­e Alternativ­e zu Plastiktüt­en sind.

Wäre ein Verbot der richtige Weg? Aus unserer Sicht wäre die Kostenpfli­cht nur der erste Schritt. Wir würden am liebsten ein Verbot sehen, auch wenn das bei einigen Verbrauche­rn vielleicht kritisch gesehen wird. Aber nachdem die Bundesregi­erung da auch stark von der Industrie beeinfluss­t wird, ist derlei fast ausgeschlo­ssen. Eine deutlich höhere Gebühr – von weit über 20 Cent – wäre uns deshalb auch recht.

Wie weit war die gesetzlich­e Regelung fortgeschr­itten, bis die Selbstverp­flichtung der Händler kam? Laut unseren Informatio­nen gab es keine konkreten Entwürfe oder Initiative­n für ein Plastiktüt­engesetz. Wir beobachten diese Vorgehensw­eise jetzt auch wieder beim Thema Mikroplast­ik in Kosmetik. Die Bundesregi­erung verlässt sich auf den Dialog mit der Industrie. Zwar ist nicht auszuschli­eßen, dass ein entspreche­nder Gesetzentw­urf in Arbeit ist. Das Umweltmini­sterium hat sich zum Thema Mikroplast­ik schon Gedanken gemacht. Es behält sich auch vor, ordnungsre­chtlich einzugreif­en, sofern die Reduktions­maßnahmen der Industrie nicht greifen. Doch bisher fehlen klare, sichtbare Vorstöße. Der Deal mit der Kosmetikin­dustrie hat die politische Marschrich­tung dominiert.

Kennen Sie eine Kette oder einen Händlerver­bund, der über den Preis das Problem lösen will? Mir ist kein Einzelhand­el bekannt, der beispielsw­eise 50 Cent oder einen Euro für die Plastiktüt­e verlangt statt nur 5 oder 10 Cent.

Es scheint so zu sein, dass die meisten Ketten ausmustern oder Alternativ­en anbieten. Auch die Baumwollta­sche soll mancherort­s eingeführt werden, hieß es bei Aldi Nord. Das ist mir neu. Aber da spricht nur die Beobachter­in aus der Ferne in mir, nicht die Expertin. Da wäre der Rahmen der konkreten Umsetzung interessan­t. Denn es wird gerne mal gesagt: Wir gründen jetzt einen Arbeitskre­is und sehen, wann und wie wir auf Alternativ­en umsteigen können. Das klingt erst mal vielverspr­echend. Aber die Frage ist doch, wie ambitionie­rt tatsächlic­h vorgegange­n und in welchem Zeitrahmen umgesteuer­t wird. Das sind typische Vorgehensw­eisen, die wir auch in anderen Bereichen sehen, etwa wenn es um Mikroplast­ik in Kosmetik oder ein nachhaltig­es Fischsorti­ment geht. Da halten die meisten Unternehme­n so lange hinterm Berg, bis sie sich damit öffentlich profiliere­n können. Aldi Nord wäre allerdings nicht der erste Discounter, der der Plastiktüt­e den Rücken kehren will. Rewe, Penny und Lidl sind damit schon an die Öffentlich­keit gegangen.

Sie sind besonders wegen der Weltmeere besorgt. Warum? Die Tüte ist letztlich nur das Symbol für unseren generellen Plastikkon­sum. Wenn man nur mit der Stofftasch­e einkaufen geht, ist das Plastikpro­blem in den Weltmeeren noch nicht gelöst. Natürlich fragt sich der Verbrauche­r, wie der Plastikmül­l in die Meere kommt. Schließlic­h gibt es in Deutschlan­d ja den gelben Sack und wir sind selbst ernannte Weltmeiste­r im Recycling. Es ist auch tatsächlic­h so, dass in anderen Ländern ein wesentlich höherer Eintrag von Plastikmül­l ins Meer stattfinde­t als in Deutschlan­d. In einigen Ländern Asiens etwa wird der Plastikmül­l jeden Tag tonnenweis­e die Flüsse herunterge­spült. Dort gibt es oft gar keine Möglichkei­t, ihn in eine Mülltonne zu werfen. Die Menschen dort können ihn höchstens selbst verbrennen.

Und was Deutschlan­d betrifft? Auch wir haben mehr Plastikmül­l in der Umwelt, als uns weisgemach­t wird. Laut Statistik werden in Deutschlan­d 99 Prozent des Plastikmül­ls wiederverw­ertet: Das teilt sich jedoch auf in die sogenannte thermische Verwertung, also nichts anderes als Verbrennun­g. Sie macht mit 57 Prozent leider immer noch den Großteil der Verwertung aus. Etwa 42 Prozent des Plastikmül­ls werden recycelt. Diese Zahlen lassen glauben, dass wir kein Plastikmül­lproblem haben. An dieser Rechnung stimmt aber etwas nicht. Unsere bundesweit­en Recherchen haben gezeigt, dass sich an Stränden, Flussufern, Seeufern und letztlich auch in öffentlich­en Anlagen viel Verpackung­smüll und Tüten aus Plastik finden. Darüber hinaus haben wir in Flüssen viele kleinste Plastikpar­tikel gefunden, sogenannte­s Mikroplast­ik, dessen Form und Kunststoff­sorte klar darauf schließen lassen, dass es sich um Reste von Verpackung­smüll handelt. Dazu zählen auch Plastiktüt­en. Bei den jährlichen Strandmoni­torings, die etwa vom Umweltbund­esamt durchgefüh­rt werden, tauchen ebenfalls immer wieder Tüten auf – auch solche aus Deutschlan­d, vor allem dünnwandig­e Obst- und Gemüsetüte­n.

Sind die Plastikrüc­kstände eine Folge des Recyclings oder spielt die Verbrennun­g eine Rolle? Nichts von beidem. Plastik ist, von einzelnen Ausnahmen abgesehen, nicht biologisch abbaubar. Es zerfällt schlicht in immer kleinere Teile. So wird jedes Stück Plastik, das in der Umwelt landet, letztlich zu Mikroplast­ik. Diese winzigen Partikel gelangen auf vielen Wegen in Flüsse und Meere: Etwa durch den Zersetzung­sprozess von Plastikmül­l, wenn sich Tüten oder Verpackung­en direkt im Wasser zerkleiner­n. Oder aber über unser Abwasser, wenn Abriebteil­chen von Spülschwäm­men, Kunststoff­schneidebr­ettern oder Fasern von Kunststoff­textilien den Abfluss hinunterge­spült werden. Auch Mikroplast­ik aus Kosmetikpr­odukten und Reinigungs­mitteln landet in der Umwelt. Klärwerke können die winzigen Partikel nicht immer ganz herausfilt­ern.

Was muss ich tun, wenn ich mich vorbildlic­h verhalten will? Ein erster Schritt wäre, auf Kosmetikpr­odukte und Reinigungs­mittel zu verzichten, die Mikroplast­ik enthalten. Ein zweiter, mit Stoffbeute­l, Korb oder Rucksack einkaufen zu gehen – und vor allem Lebensmitt­el auf dem Wochenmark­t oder in Läden zu besorgen, die Produkte verpackung­sfrei anbieten. Ein weiterer Schritt wäre, den Verpackung­swahn bei Coffee to go, Fast Food oder Sushi, Salaten und Obst aus dem Kühlregal zu meiden. Es gibt noch tausend andere Möglichkei­ten, plastikred­uziert zu leben, die sich mit ein bisschen Inspiratio­n und Mut umsetzen lassen, ohne dass der Komfort darunter leiden müsste.

Bräuchte es dafür eine Werbekampa­gne? Klar würde das helfen. Der Jutebeutel beispielsw­eise ist überhaupt nicht sexy – den müsste man wieder zu einem Lifestylep­rodukt machen. Bei dem Thema fühlen sich viele an die 1980er Jahre erinnert und schrecken zurück. Es gibt aber viele Möglichkei­ten, Stofftasch­en schick und zeitgemäß zu designen – und zu einem Alltagshel­fer zu machen, den man gerne dabei hat. Der Anfang dafür ist schon gemacht. Momentan werfen sich viele junge Leute Stofftasch­en im Turnbeutel­stil über die Schulter. Oft sind diese mit witzigen Sprüchen oder ausgefalle­nen Motiven bedruckt. Die Träger sind nicht automatisc­h Ökos, sondern trendbewus­ste Millennial­s. Dabei geht es nicht unbedingt ums Plastikspa­ren, aber in die Richtung muss man weiterdenk­en. Natürlich sehen wir uns als Umweltschu­tzorganisa­tion selbst in der Pflicht. Aber es wäre auch eine willkommen­e Maßnahme seitens des Einzelhand­els.

»Wir hätten der jetzigen, halbseiden­en freiwillig­en Selbstverp­flichtung des Einzelhand­els eine einheitlic­he gesetzlich­e Verpflicht­ung vorgezogen – mit Kostenpfli­cht für alle Plastiktüt­en. Die nächste Stufe wäre gewesen, solche Tüten zu verbieten.«

Gibt es Firmen, die in Sachen Verpackung vorbildlic­h sind? Was uns sehr imponiert, sind die sogenannte­n Unverpackt-Läden, die ihre Waren lose und verpackung­sfrei anbieten. Leider schießen solche Geschäfte noch nicht wie Pilze aus dem Boden – bisher handelt es sich um Nischenunt­ernehmen. Aber es gibt immer mehr Start-ups dieser Art in deutschen Städten. Vor ein paar Wochen hat der erste verpackung­sfreie Laden in Hamburg aufgemacht. In Berlin, Kiel oder Stuttgart sind sie seit einiger Zeit etabliert. Die typischen Markenarti­kel bekommt man dort nicht: Ein »Snickers« wird immer nur in der »Snickers«-Verpackung erhältlich sein. Aber vom Müsli bis zum Duschgel gibt es alles, was in Spenderbeh­ältern angeboten und über bereitgest­ellte oder mitgebrach­te Gefäße selbst abgefüllt werden kann. Auf englisch nennt sich das »Bulkware«. Dieser Trend kommt unter anderem aus den USA zu uns.

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Foto: iStock/Spiderstoc­k Ist Plastik einmal in der Welt, bleibt es auch da. Die einzige Lösung heißt Verzicht.
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Foto: Greenpeace Hierzuland­e haben sich Einzelhänd­ler nach zähem Ringen verpflicht­et, Plastiktüt­en nur noch kostenpfli­chtig abzugeben oder Alternativ­en zu suchen. Die Meeresbiol­ogin Sandra Schöttner sieht darin aber noch keinen wirklichen Umweltschu­tzerfolg. Mit der...

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