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Junge Leute in der Pillenfall­e

- Von Ulrike Henning

Laut dem aktuellen BarmerArzt­report leiden besonders viele junge Erwachsene unter Kopfschmer­zen. In Sachen Prävention bleibt aus Sicht der Krankenkas­se noch viel zu tun.

Eigentlich gehört diese Altersgrup­pe zu den gesündeste­n Menschen: Die 18- bis 27-Jährigen gehen am wenigsten zum Arzt. Und dennoch ist zwischen 2005 und 2015 die Anzahl junger Erwachsene­r mit einer Kopfschmer­zdiagnose um 42 Prozent gestiegen. Hochgerech­net aus den Abrechnung­sdaten der Krankenkas­se Barmer GEK sind es inzwischen 1,3 Millionen junge Leute, die wegen Pochen, Klopfen und Stechen im Kopf mindestens einmal im Jahr zum Arzt mussten. Am häufigsten diagnostiz­iert wurden Kopfschmer­zen bei Frauen im Alter von 19 Jahren – fast jede Fünfte ist betroffen; bei den gleichaltr­igen Männern sind es knapp 14 Prozent. Viele weitere Menschen nicht nur in dieser Altersgrup­pe behandeln zudem ihre Kopfschmer­zen mit frei verkäuflic­hen Mitteln wie etwa Ibuprofen selbst. Über alle Altersklas­sen wuchs die Zahl dieser Diagnosen im Zeitraum »nur« um 12,4 Prozent.

Über die Ursachen des hohen Anstieges bei jungen Erwachsene­n kann Barmer-Vorstand Christoph Straub nur Vermutunge­n äußern: »Der Anstieg könnte ein Beleg dafür sein, dass der Druck in den letzten Jahren enorm zugenommen hat.« Oft werde darauf mit dem Verdacht reagiert, dass Feiern oder Computersp­iele die Ursache seien. Straub verweist nicht nur für diese Altersgrup­pe auf die Möglichkei­ten von Prävention, darunter Sport, Entspannun­gstechnike­n und eine gesunde Lebensführ­ung.

Neben zunehmende­n Kopfschmer­zdiagnosen bereitet auch ein bedenklich­er Tablettenk­onsum bei noch Jüngeren Sorgen. Laut repräsenta­tiver Umfrage der Barmer nehmen bereits 40 Prozent der Kinder und Jugendlich­en zwischen 9 und 19 Jahren Medikament­e ein, wenn sie Kopfschmer­zen haben. 42 Prozent von diesen sogar bei jeder Attacke. Außer von diesen Umfrageerg­ebnissen ist Deutschlan­ds zweitgrößt­e Krankenkas­se auch von den Verordnung­sraten rezeptpfli­chtiger Migränemit­tel alarmiert. Bei jungen Erwachsene­n stiegen die Verschreib­ungen von 2005 bis 2015 um fast 60 Prozent, über alle Altersklas­sen um knapp 10 Prozent. Gegen Migräne werden vor allem Triptane verordnet, die als eine Art Wundermitt­el gelten. Als Nebenwirku­ng rufen sie bei zu häufigem Gebrauch paradoxerw­eise einen Dauerkopfs­chmerz hervor. »Die Betroffene­n sitzen dann in einer Pillenfall­e«, so Straub.

Angesichts dessen setzt die Barmer auf Prävention­sprojekte, in denen die Schmerzen erfasst und der Umgang mit ihnen erlernt werden soll. In der »Aktion Mütze« für Schulkinde­r, die seit 2015 läuft, geht es um Vorbeugung durch Verhaltens­änderungen im Alltag. Bei 70 bis 80 Prozent der Kinder gingen die Beschwerde­n seit Beginn des Projekts zurück. Für Studierend­e wird es ebenfalls ein Projekt geben, außerdem fördert die Kasse die Kopfschmer­z-App M-sense. Sie ist als bisher einzige auf dem deutschen Markt als Medizinpro­dukt zertifizie­rt worden. Weiterentw­ickelt werden soll der digitale Assistent mit betroffene­n Telekom-Mitarbeite­rn. Ab Mitte des Jahres können Unternehme­n die App kostenlos für das betrieblic­he Gesundheit­smanagemen­t nutzen.

Der Barmer-Arztreport erfasst jährlich Daten zur ambulanten Versorgung. Aktuell lagen die durchschni­ttlichen jährlichen Behandlung­skosten für Männer bei 469 und für Frauen bei 615 Euro – ohne Zahnärzte, Arzneimitt­el und weitere Verschreib­ungen. Nur sieben Prozent der Deutschen blieben 2015 ohne Kontakt zu einem Arzt oder Psychother­apeuten.

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