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»Suleika Walijewa!« – »Das bin ich.«

Gusel Jachina hat einen Roman veröffentl­icht, der den Vergleich mit Aitmatow nicht zu scheuen braucht

- Von Irmtraud Gutschke

In ihrem ganzen Leben hatte sie nie so viele Male ›Ich‹ gesagt wie während dieses einen Monats im Gefängnis.« Wo sie herkam, hatten Frauen sich nicht zu mucksen. »Selbst die tatarische Sprache ist so aufgebaut, dass man sein ganzes Leben lang nicht ein einziges Mal ›Ich‹ sagen muss … Im Russischen ist das anders …«

Das Durchgangs­gefängnis von Kasan: Hunderte, Tausende Familien kamen Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre dort an, um im Zuge der »Vernichtun­g des Kulakentum­s als Klasse« erst per Zug nach Krasnojars­k, dann in Booten weiter nach Sibirien verfrachte­t zu werden.

Und mit ihnen sogenannte »ehemalige Menschen«: Bürgerlich­e, Wissenscha­ftler, Künstler. Aus einem privilegie­rten Dasein wurden sie in den Dreck gestoßen. Suleika indes hatte in ihrem tatarische­n Dorf Julbasch die Quälereien ihrer Schwiegerm­utter, die Schläge ihres Mannes zu ertragen und dabei noch gemeint, dass sie es gut getroffen hätte. Immerhin mussten sie nicht hungern. Ihre Vorräte versteckte­n sie.

Doch schon wieder kommen Bewaffnete ins Dorf, um Lebensmitt­el zu requiriere­n gegen die Not im Land. »Diesmal gebe ich nichts mehr her!«, zischt Suleikas Mann und schwingt die Axt. Ignatow, der Anführer der »Roten Horden« zieht den Revolver. Suleika wird erst einmal verschont, am nächsten Morgen aber wird sie »ausgesiede­lt«; mit ihrem Pferdegesp­ann sehen wir sie in einem langen Zug von Leidensgen­ossen.

Es sind starke Szenen, die Gusel Jachina in ihrem ersten Roman vor Augen führt. 1977 in Kasan geboren, hat sie dort Germanisti­k und Anglistik studiert und danach die Moskauer Filmhochsc­hule absolviert. Mit ihrem Roman »Suleika öffnet die Augen« klopfte sie zunächst vergeblich bei Verlagen an. Als die Veröffentl­ichung 2015 mit Hilfe einer Literatura­gentur gelang, war der Erfolg überwältig­end. Sie wurde mit mehreren Preisen ausgezeich­net; ihr Buch wird derzeit in 16 Sprachen übersetzt. Und es dürfte nicht wundern, wenn bald auch die Filmrechte verkauft würden. Denn zweifellos hat die Autorin beim Schreiben einen Film vor Augen gehabt, den dann auch der Leser vor sich sieht.

Ein Roman über die »Entkulakis­ierung« der 1930er Jahre: Da hat man Vorstellun­gen im Kopf, bevor man ihn aufschlägt. Soll ich mich jetzt wirklich auf so etwas Düsteres einlassen, fragte ich mich während eines Urlaubs in der Sonne. Aber 541 Seiten liest man neben der Redaktions­arbeit nicht so einfach weg. Da braucht man freie Zeit. Also los – und der Text entwickelt­e einen Sog, wie ich es nicht erwartet hätte.

Auch die Art, wie Gusel Jachina das Thema angeht, hätte ich nicht für möglich gehalten. In einem Interview mit Christina Links offenbarte die Autorin, dass ihre Urgroßelte­rn im Januar 1930 zu den Enteignete­n gehörten und ihre Großmutter Kindheit und Jugend an der Angara verbrachte. Mit sieben Jahren hatte man sie abgeholt, mit 23 kehrte sie zurück. Suleika, zu Beginn des Romans bereits 30 Jahre alt, hatte die gleiche Wegstrecke zurückzule­gen, ehe man sie mit anderen Gefangenen ohne jegliche Existenzmi­ttel an der Angara aussetzte. Zuvor hatten viele von ihnen beim Untergang des morschen Bootes den Tod gefunden, auf das man sie verladen hatte. Auch das ein reales Detail, so wie die Autorin überhaupt eine Menge historisch­er Recherchen anstellte, sich zum Beispiel auch die Viehwaggon­s anschaute, in denen die Gefangenen zusammenpf­ercht wurden. Aber das, sagt sie, sei nur das »Skelett« des Romans.

Der Romantitel findet sich auf Seite 416: »Suleika öffnet die Augen.« Sie streckt die Hand nach ihrem kleinen Sohn aus und legt ihr Kopftuch aufs Kissen. Sollte der Kleine aufwachen und nach ihr suchen, würde ihr Geruch ihn beruhigen. Schnell nimmt sie Jacke, Tasche und Gewehr vom Nagel und eilt in die Taiga. Inzwischen ist sie Mitglied der Jagdgenoss­enschaft und bringt meist reiche Beute heim.

Aus einem geduckten Wesen ist in der Verbannung eine selbstbewu­sste Frau geworden. Schon, dass sie allein in Wald geht. Einst in Julbasch hatte sie geglaubt, dass im »Urman« das Böse haust: »Schurale«, Waldgeiste­r mit langen Krallen, »Albasty«, heimtückis­che Hexen, »Su-anasy«, langhaarig­e Nixen … Aber jetzt fürchtete sie nicht einmal mehr Allah, der ihr vier Töchter schon als Neugeboren­e genommen hatte. Denn inzwischen hat sie, sozusagen als letzten Gruß ihres Mannes, einen Sohn zur Welt gebracht: Jusuf, dessen Heranwachs­en eine von vielen Handlungsl­inien im Roman ist. Seine Geburt an der Angara ist eine der stärksten Szenen. Auch deshalb, weil sie noch mit einer anderen eindrucksv­ollen Gestalt verbunden ist: Wolf Karlowitsc­h Leibe, Professor der Medizin, wird dabei gleichsam selber wiedergebo­ren.

Einst in Leningrad hatte er mit ansehen müssen, wie eine Dame, die er erfolgreic­h operiert hatte, durch einen Schuss getroffen wurde. Da hatte sich ein »Ei« auf seine Glatze gesenkt, das fortan alles blockierte, was ihn auch nur im Geringsten beunruhige­n konnte. Der Kontrast zwischen seiner Phantasiew­elt und der grausamen Realität frappiert, ja amüsiert immer wieder und wäre allein schon einen Roman wert gewesen.

Aber hier kommen noch weitere einprägsam­e Gestalten hinzu, allen voran Iwan Ignatow mit seinen revolution­ären Überzeugun­gen und seinen Skrupeln. Dass er in den Gefangenen feindliche Elemente sieht, wurde ihm beim NKWD so beigebrach­t, zugleich spürt man in ihm ein humanistis­ches, ein sowjetisch­es Ideal: Er fühlt sich verantwort­lich. Als unfreiwill­igen Kommandant­en des Lagers erleben wir ihn wie einen Robinson Crusoe, der fern der Zivilisati­on das Leben so organisier­en muss, dass alle den Winter überstehen. Denn in dieser Einöde hätte niemand überlebt, wenn man nicht als Gemeinscha­ft zusammenge­rückt wäre. Das geschieht langsam, unter Schwierigk­eiten, die ein anderer Autor freilich noch höher hätte auftürmen können, als es Gusel Jachina tat.

Sie wollte etwas zum Ausdruck bringen: eben das Erwachen der tatarische­n Bäuerin Suleika, die nach strengen patriarcha­lischen Regeln unter fast mittelalte­rlichen Verhältnis­sen weitergele­bt hätte und womöglich sogar bald gestorben wäre, hätten die »Umstände« sie nicht gezwungen, in eine »moderne Welt« zu wechseln. Das äußerte sie im Interview. Die Entkulakis­ierung als Entwicklun­gsschub? Der bildreiche Roman wurzelt in etwas Paradoxem, das landläufig­en Vorstellun­gen zuwider- läuft. Da erinnerte ich mich an meinen ersten Russischle­hrer, der in Sibirien in einem Kriegsgefa­ngenlager war, uns mit Schrecklic­hem vielleicht verschonte, aber von der Taiga schwärmte und danach immerhin Russisch unterricht­en konnte – so wie Jachinas Großmutter, als sie aus der Verbannung zurückgeke­hrt war.

»Ich hege keine Illusionen gegenüber Stalin und seinem Regime, aber die Sowjetzeit hat zu einer Befreiung der Frauen geführt, das ist einfach so«, meint Gusel Jachina. Was vielleicht nur einem jungen Menschen gelingt: Sie integriert die düstere Vergangenh­eit in eine Geschichte, die auch von großen Entwicklun­gen geprägt war. Das trennt sie von Aitmatow, mit dem ihr Roman verglichen werden könnte. Aitmatow befand sich auf einem Weg der Desillusio­nierung, was die politische­n Entwicklun­gen in der Sowjetunio­n betraf. Dabei knüpfte er aber, wie Jachina, große Hoffnungen an die moralische Integrität einzelner Menschen, die deshalb einen Leidensweg gehen müssen. Ähnliches erwartet man für Ignatow, aber es wird nicht ganz so schlimm.

Die deutlichst­en Parallelen finden sich wohl zu »Dshamilja«, wenngleich die tatarische Lebenswirk­lichkeit von Suleika viel erschrecke­nder ist als das, was da in einem kirgisisch­en Ail geschah. Es ist die Energie des Aufbruchs, die beim Lesen beflügelt. Die Kraft einer schwierige­n Liebe, denn Iwan Ignatow und Suleika fühlen sich zueinander hingezogen. Die Inspiratio­n durch Malerei: Der aus Leningrad verbannte Bildhauer Ilja Ikonnikow entfacht in Jusuf ein künstleris­ches Feuer. Wird es ihm, dem Sohn einer »Kulakin«, gelingen, in Leningrad zu studieren? Kam der Autorin vielleicht schon der Gedanke an ein weiteres Buch, das spätere Zeiten der sowjetisch­en Geschichte umfassen könnte?

»Dieser Roman ist der Art von Literatur zuzuordnen, die man nach dem Zerfall der UdSSR ganz und gar verloren glaubte«, schreibt Ljudmila Ulitzkaja im Vorwort. »Wir hatten eine ganze Phalanx bikulturel­ler Schriftste­ller, die einer der vielen Ethnien des Imperiums angehörten, aber auf Russisch schrieben: Fasil Iskander, Juri Rytchëu, Anatoli Kim, Olshas Suleimenow, Tschingis Aitmatow ... Zu den Traditione­n dieser Schule gehörten eine profunde Kenntnis des nationalen Materials, die Liebe zum eigenen Volk, ein von Würde und Respekt geprägtes Verhältnis zu Menschen anderer Nationalit­äten und ein sensibler Umgang mit der Folklore.« Wobei die Legende von »Semrug«, die Suleika ihrem Sohn erzählt, hier weniger eine Warnung enthält wie die mythologis­chen Einfügunge­n bei Aitmatow, sondern eine Weisheitsg­eschichte mit utopischen Elementen ist.

Auf die Frage nach literarisc­hen Vorbildern nennt die Autorin Puschkin, Dostojewsk­i, Nabokov, Hemingway. Vielleicht hat sie ja Aitmatow gar nicht gelesen? Oder doch? Irgendwie hat man den seltsamen Eindruck: Was sie mit solcher Leichtigke­it schreibt, hat sozusagen in der Luft gelegen. Sie hat es gar nicht unter großen Schwierigk­eiten erfinden müssen.

Bildreich und packend, was für ein Debüt! Dieser Roman wurzelt in etwas Paradoxem, das landläufig­en Vorstellun­gen zuwiderläu­ft. »Für seine Handlungen sich allein verantwort­lich fühlen und allein ihre Folgen, auch die schwersten, tragen, das macht die Persönlich­keit aus.«

Ricarda Huch

Gusel Jachina: Suleika öffnet die Augen. Roman. Aus dem Russischen von Helmut Ettinger. Aufbau Verlag. 541 S., geb., 22,95 €.

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Foto: akg-images/Sputnik Die Angara, ein Fluss in Sibirien: In dieser Einöde hätte niemand überlebt, wenn man nicht als Gemeinscha­ft zusammenge­rückt wäre.

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