nd.DerTag

Schulz setzt auf Vergesslic­hkeit

Andreas Wehr über den designiert­en SPD-Kanzlerkan­didaten und seine neuen Ansichten zu CETA und zur Agenda 2010

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In einem Interview der »Frankfurte­r Allgemeine­n Zeitung« verriet Sigmar Gabriel deren Lesern, weshalb Martin Schulz der richtige Spitzenkan­didat für die SPD sei: »Er ist nicht Teil der vielen Konflikte, die ich in meiner Zeit als Vorsitzend­er der SPD ja austragen musste. Themen wie die Vorratsdat­enspeicher­ung, das Freihandel­sabkommen CETA mit Kanada und manches andere mehr haben ja auch innerhalb der SPD viel Kraft gekostet. Mit all dem hat Martin Schulz nichts zu tun, und er ist deshalb für Wählerinne­n und Wähler der Grünen und der Linksparte­i wählbar. Und er ist nicht so verhaftet mit der Großen Koalition wie ich.«

Gabriel hofft dabei auf die Vergesslic­hkeit der Wählerinne­n und Wähler, denn in Wirklichke­it hatte Schulz mit dem Freihandel­sabkommen zwischen der EU und Kanada (CETA) durchaus »etwas zu tun«. Obwohl als Präsident des Europäisch­en Parlaments eigentlich zur Zurückhalt­ung verpflicht­et, hatte er sich stets für dieses Abkommen wie auch für das entspreche­nde mit den USA (TTIP) eingesetzt. Als etwa das CETA-Abkommen in Wallonien auf der Kippe stand, half Schulz mit, die sozialdemo­kratische Regierung dort von ihrem Nein abzubringe­n: »Im Hintergrun­d zog er die Strippen beim CETA-Deal, beruhigte die Kanadier, warb für Zustimmung bei belgischen Politikern«, meldete die »Bild«-Zeitung am 27. Oktober 2016.

Auch in anderen Fragen der EUPolitik mischte der designiert­e Kanzlerkan­didat kräftig mit: So warnte er die Griechen beim Referendum im Juli 2015 vor einem Nein, und er sprach sich für das Freihandel­sabkommen zwischen der EU und der Ukraine aus, dessen Unterzeich­nung die Krise dort erst außer Kontrolle geraten ließ. Und, anders als Gabriel es den Wählerinne­n und Wählern jetzt weismachen möchte, ist Schulz auch durchaus mit der Großen Koalition »verhaftet«. Wenn auch nicht mit der in Berlin, so doch mit jener im Europäisch­en Parlament, die dort erst zu Ende ging, als er den Sessel des Parlaments­präsidente­n räumen musste.

Auch als Wirtschaft­spolitiker meldete sich Schulz zu Wort. In seinem 2013 geschriebe­nen Buch »Der ge- Andreas Wehr ist Jurist und Autor von Büchern sowie Artikeln unter anderem zu Europa. fesselte Riese. Europas letzte Chance« begrüßte er, dass sich Frankreich und Italien auf den Weg machen, Deutschlan­d zu folgen und nach dem Vorbild der Agenda 2010 weitreiche­nde Strukturre­formen einleiten. »Ich bin sicher, dass auch Europa die Krise meistern und gestärkt aus ihr hervorgehe­n wird. Wichtige Strukturre­formen werden derzeit in einigen Ländern nachgeholt«, sagte er. Und: »Damit kein Missverstä­ndnis aufkommt: Natürlich müssen verkrustet­e Strukturen in vielen Ländern der EU aufgebroch­en werden.« Doch um welche »Verkrustun­gen« handelte es sich da, und was sind das für »Strukturre­formen«, die »in einigen Ländern nachgeholt« werden müssen?

Mit »Strukturre­formen« wird im neoliberal­en Jargon stets der Abbau von Schutzrech­ten für die Lohnabhäng­igen und sozial Schwachen umschriebe­n. Das »Aufbrechen von Verkrustun­gen« bedeutet die Durchsetzu­ng von Deregulier­ungen und Privatisie­rungen, die Reform des Arbeitsmar­ktes zur Erhöhung des Ausbeutung­sgrads und die Zusammenkü­rzung öffentlich­er Haushalte – euphemisti­sch als »Verschlank­ung« bezeichnet.

Es verwundert daher nicht, dass sich Schulz in seinem Buch ausdrückli­ch zur Agenda 2010 seines Parteifreu­ndes Gerhard Schröder bekennt, machte doch nach ihm dieser sozialdemo­kratische Kanzler »Deutschlan­d wieder fit«. Nach 16 Jahren Kohl-Kanzlersch­aft musste nämlich nach Schulz »ab 1998 eine neue Bundesregi­erung für frischen Wind in Deutschlan­d sorgen und den Reformstau auflösen«. Nach Kritik an einigen Unzulängli­chkeiten der Agenda 2010 heißt es daher anerkennen­d bei ihm: »Anderersei­ts befindet sich unser Land auch wegen dieser Reformen inzwischen ökonomisch wieder auf einem Spitzenpla­tz.« Besser können es die Arbeitgebe­rverbände auch nicht sagen.

Als Kanzlerkan­didat sieht Schulz die Dinge nun plötzlich ganz anders. In seiner Bielefelde­r Rede bei der Arbeitnehm­erkonferen­z am Montag beklagt er, dass sich »seit den 1990er Jahren die Ordnung auf dem Arbeitsmar­kt grundlegen­d geändert hat«, und zwar zum Schlechten hin. »Auch wir haben Fehler gemacht«, heißt es dazu ganz allgemein. Aber er fand kein Wort zu seiner ganz eigenen Huldigung der Agenda 2010. Einmal mehr hofft also die SPD auf die Vergesslic­hkeit der Wählerinne­n und Wähler. Es wird sich zeigen, ob sie damit im September durchkommt.

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