Özdemirs rot-grüne Regierungsträume
Spitzenpolitiker der Ökopartei sehen Sozialpolitik nicht als zentrales Thema ihres Wahlkampfs
Die grünen Spitzenkandidaten Cem Özdemir und Katrin Göring-Eckardt wollen keinen Bruch mit der neoliberalen Agendapolitik. In der Partei regt sich aber auch Widerstand. Cem Özdemir machte gute Miene zum bösen Spiel. Über den Aufschwung der SPD in den Umfragen sagte der Grünen-Vorsitzende in der »Berliner Zeitung«, dass nun auch Rot-Grün wieder möglich sei. Eine empirische Basis für diese Behauptung existiert jedoch nicht. Die beiden Parteien kommen in neuen Erhebungen zusammen auf 36 bis 40 Prozent. Nichtsdestotrotz schwärmte Özdemir von den Zeiten, in denen Sozialdemokraten und Grüne die Bundesrepublik unter der Führung von Kanzler Gerhard Schröder regierten, ohne den damaligen Sozialkahlschlag zu erwähnen. Offensichtlich waren diese Äußerungen auch als Signal an die Linkspartei gemeint, mit der Özdemir möglichst nicht die Regierungsbank teilen will.
Kein Wort verlor er darüber, dass mögliche Stimmenzuwächse für die SPD zulasten der Grünen gehen könnten. Die Umfragen legen nahe, dass seit der Nominierung des Europapolitikers Martin Schulz durch die SPD-Führung zum Kanzlerkandidaten nicht wenige Wähler der Ökopartei ernsthaft erwägen, zu den Sozialdemokraten zu wechseln. Die Grünen konnten sich Ende vergangenen Jahres noch regelmäßig über zweistellige Werte freuen. Nun stehen sie nur noch zwischen sieben und neun Prozent der Stimmen.
Schulz will vor allem mit sozialpolitischen Themen punkten. Am Montag hatte er bei einer Konferenz in Bielefeld kleine Korrekturen an der Agenda 2010 angekündigt. Einen Wettbewerb auf diesem Feld mit der SPD wollen einige Grüne vermeiden. Nach einem Bericht der »Süddeutschen Zeitung« sollen Themen wie Umwelt- und Klimaschutz oder der Kampf gegen Massentierhaltung im Mittelpunkt ihrer Kampagne für die Bundestagswahl im September stehen. Dafür hatten sich viele Mitglieder des Parteirats bei einer Sitzung am Montag ausgesprochen. Die Forderung nach einer Wiederbelebung der Vermögensteuer soll zwar eben- falls eine Rolle spielen, aber nicht ins Zentrum rücken.
Dafür gibt es gute Gründe. Denn der Beschluss des Münsteraner Bundesparteitags der Grünen vom November vergangenen Jahres ist recht allgemein formuliert worden. Die Vermögensteuer soll demnach »für Superreiche« gelten sowie Arbeitsplätze und »die Innovationskraft von Unternehmen« nicht gefährden. Details bleiben unklar. Nach Ansicht der Fraktionschefin im Bundestag, Katrin Göring-Eckardt, ist die Wiederbelebung der Vermögensteuer ohnehin keine Voraussetzung für eine Regierungsbeteiligung.
Bei Koalitionsverhandlungen könnte die Steuer also schnell vom Tisch sein. Die Union will das Instrument nicht, die SPD ist sich noch uneins. Fraglich ist jedoch, ob die von der Basis gewählten Spitzenkandidaten Göring-Eckardt und Özdemir, die als Realos politisch auf einer Linie liegen, überhaupt mögliche Koalitionsgespräche führen würden. Um sich in ihren Spitzenpositionen zu behaupten, müssten sie ein überzeugendes Bundestagswahlergebnis erreichen. Danach sieht es derzeit nicht aus.
Dass das Thema Verteilungsgerechtigkeit nicht im Mittelpunkt ihres Wahlkampfs stehen soll, entspricht den politischen Ansichten der grünen Spitzenkandidaten. GöringEckardt führte bereits von 2002 bis 2005 die Fraktion, damals gemeinsam mit Krista Sager. Die Fraktionsspitze musste in dieser Zeit bei Abgeordneten viel Überzeugungsarbeit leisten, damit diese der rot-grünen Agenda 2010 zustimmen. Dass sie das neoliberale Reformwerk mit auf den Weg gebracht hat, bereut GöringEckardt bis heute nicht. Sie äußert sich in der Sozialpolitik aber inzwischen etwas milder, um linksliberale Wähler nicht zu verschrecken.
Vielen Grünen, die Schröders Verarmungsprogramm entschärfen wollen, reicht das nicht. Der Parteitag in Münster stimmte zum Unmut der Realos mehrheitlich dafür, die Sanktionen gegen Hartz-IV-Bezieher abzuschaffen. Wie sich die Grünen letztlich in der Sozialpolitik aufstellen werden, ist angesichts des Gegensatzes zwischen zuletzt mehrheitlich eher linken Parteitagsdelegierten und dem konservativen Spitzenkandidatenduo schwer vorherzusagen.