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Nachdenken über Monogamie

Gerne wird behauptet, monogame Zweierbezi­ehungen seien etwas »Natürliche­s« für den Menschen. Aber ist das wirklich so?

- Von Wladek Flakin

Ob Menschen für Zweierbezi­ehungen geschaffen sind oder eher für Gruppensex wie bei den Schimpanse­n? Sicher ist: Anthropolo­gie hat viel mit Marxismus gemein.

Unser Bild vom Leben in der Steinzeit ist stärker von Fred Feuerstein geprägt, als wir glauben. Niemand denkt wirklich, dass die Menschen vor Zehntausen­den von Jahren kleine Dinosaurie­r als Staubsauge­r benutzten. Aber wir sehen Fred, Betty und Pebbles in ihrem Einfamilie­nhaus – als ob die bürgerlich­e Kleinfamil­ie, sauber getrennt von der Nachbarsfa­milie, etwas Selbstvers­tändliches wäre.

Monogame Beziehunge­n entspreche­n einer »menschlich­en Natur« – das wird gern behauptet. Dazu kommen noch pseudowiss­enschaftli­che Theorien: Männer seien dazu programmie­rt, ihre Samen möglichst weit zu streuen, während Frauen dazu bestimmt sind, nach einem einzigen, treuen Ehemann und Versorger zu suchen. Doch Monogamie ist eine ausgesproc­hene Seltenheit in der Tierwelt. Nur wenige Arten wie Pinguine, Gibbons oder Albatrosse bilden Zweierbezi­ehungen. Neuere Forschunge­n zeigen, dass auch diese angeblich monogamen Tiere nicht weniger Seitensprü­nge eingehen als angeblich monogame Menschen.

Wie hatten unsere Vorfahren vor der Entstehung der Klassenges­ellschaft Sex? Die Frühgeschi­chte der Menschheit spielte sich in Clans ab. Ist es vorstellba­r, dass Menschen in solchen Clans nur mit jeweils einem einzigen Partner Sex hatten? Werden sich nur die biologisch­en Eltern um den Nachwuchs gekümmert haben? In ihrem neuen Buch suchen Christophe­r Ryan und Cacilda Jethá, zwei Psychologe­n aus Barcelona, nach Erklärunge­n für die Evolution der unendlich komplexen menschlich­en Sexualität. »Sex at Dawn« (»Sex – die wahre Geschichte«) greift auf Primatolog­ie, Anthropolo­gie und Evolutions­biologie zurück – und weist nach, dass Monogamie ein recht neues und alles andere als natürliche­s Sexualverh­alten für den Menschen darstellt.

Die Vorstellun­g von Zweierbezi­ehungen in der Steinzeit kritisiere­n die Autoren als »Fred-Feuerstein-Verfälschu­ng« (Flinstoniz­ation) der Frühgeschi­chte. Sie wollen stattdesse­n »echte Fakten« sammeln. Die Suche läuft auf verschiede­nen Wegen:

1. Wir können unsere nächsten Verwandten in der Tierwelt betrachten: Bei Primaten kommt sehr unterschie­dliches Sexualverh­alten vor. Schimpanse­n und Bonobos – mit denen wir einen gemeinsame­n Vorfahren vor fünf Millionen Jahren hatten – leben in Clans. Besonders bei letzteren gibt es »ungezügelt­en Gruppensex (...), der für allgemeine Entspan- nung sorgt und das komplexe soziale Netz stabilisie­rt«. Bonobos pflegen so viel sexuellen Kontakt miteinande­r, dass Primatolog­en von einem »Bonobo-Händeschüt­teln« sprechen, wenn sie sich untereinan­der befriedige­n. Gorillas, viel entfernter mit uns verwandt, leben in Gruppen mit einem einzigen Alphamännc­hen und mehreren Weibchen. Der Silberrück­en hält andere Männchen von seinem Harem fern. Dagegen können Schimpanse­nweibchen »Dutzende Male am Tag Geschlecht­sverkehr mit allen willigen Männern haben«. Mit letzteren sind wir viel näher verwandt, was sich auch in unserer Körperstru­ktur ausdrückt.

2. Wir können primitive Gesellscha­ften von heute betrachten: In entlegenen Teilen der Welt leben heute noch Gruppen von Menschen ohne Privateige­ntum und ohne soziale Klassen. Diese indigenen Gesellscha­ften sind so weit von sexueller Monogamie entfernt, dass sie nicht mal eine Vorstellun­g davon besitzen, dass Babys von einem einzelnen Mann abstammen. Stattdesse­n gehen sie davon aus, dass eine Frau, während sie Sex mit praktisch allen Männern des Clans hat, immer mehr Sperma in ihrem Bauch sammelt, bis daraus ein Fötus entsteht. So setzen sich die einzelnen Teile des Kindes von unterschie­dlichen Vätern zusam- men – und die Kinder gehören dem gesamten Dorf.

3. Wir können unsere eigenen Körper betrachten: Ein bestimmtes Sexualverh­alten prägt nach Millionen Jahren die physischen Formen einer Spezies. Denn jeder Organismus optimiert seinen Energiever­brauch, um die eigenen Gene weiterzuge­ben. Am menschlich­en Körper lassen sich verschiede­ne Merkmale einer langen Tradition von Gruppensex erkennen. Ein Beispiel sind unsere Genitalien. Ein männlicher Gorilla sichert die Weitergabe der eigenen Gene dadurch, dass er andere Männchen von seinen Weibchen fern hält. Entspreche­nd investiert sein Körper in einen breiten Brustkorb und starke Arme – dafür hat er relativ kleine Hoden. Bei Bonobos dagegen konkurrier­en die Männer nicht um den Zugang zu den Frauen. Alle haben Sex miteinande­r – und die Spermien der verschiede­nen Männer konkurrier­en innerhalb des Uterus. Entspreche­nd groß sind die Hoden von männlichen Schimpanse­n. Der Gorilla ist etwa viermal größer als der Bonobo, und dennoch sind seine Hoden nur ein Drittel so groß. Und auch hier sind Menschen viel näher an den Bonobos als an den Gorillas.

Das sind nur drei Beispiele aus einem vierhunder­tseitigen Band. Das Buch greift auch modernen Pornokonsu­m auf, um zu zeigen, dass Menschen nach viel mehr als monogamen Beziehunge­n verlangen. Der USKolumnis­t Dan Savage fragt, warum so viele Religionen Abweichung­en von der Monogamie so hart bestrafen, wenn das das natürliche Verhalten unserer Spezies sein soll. Aber wie sieht natürliche Sexualität aus? Sollte es Forderunge­n geben, dass wir in Gruppen von etwa 50 Menschen aller Altersgrup­pen und Geschlecht­er leben, die ununterbro­chen miteinande­r Sex haben? Nein. Die Untersuchu­ng von Ryan und Jethá zeigt, dass Sexualität zwar ein biologisch­es Fundament hat, aber von der Gesellscha­ft ständig neu geformt wird. Menschen haben heute sexuelle Bedürfniss­e, die im Urkommunis­mus gar nicht vorstellba­r waren. Interessan­t ist die Frage: Wie könnten Menschen, die keinerlei Formen von Herrschaft kennen würden, das Spielen mit Dominanz und Unterwerfu­ng erotisch finden?

Über weite Strecken haben sich Marxismus und Anthropolo­gie Hand in Hand entwickelt. Deswegen stimmen Ryan und Jethá mehr mit marxistisc­hen Ideen überein, als ihnen vermutlich bewusst ist. So betonen sie, dass der Zwang zur weiblichen Monogamie – und das Patriarcha­t – zu- sammen mit dem Ackerbau und dem Privateige­ntum entstanden ist. Und wiederhole­n was Friedrich Engels bereits postuliert­e. Die Autoren zeichnen nach, dass sich menschlich­e Sexualität zusammen mit den gesellscha­ftlichen Verhältnis­sen entwickelt. Doch sie verkennen die zentrale Rolle des Klassenkam­pfes in der Geschichte. Deswegen legen sie auch kein politische­s Programm gegen die Monogamie vor. Aufklärung über Bonobos ist fasziniere­nd, und dennoch nicht ausreichen­d, damit wir irgendwann eine wirklich freie Sexualität leben. Denn erst jene Menschen, die nicht mehr gezwungen werden, ihre Arbeitskra­ft zu verkaufen, können ihre Bedürfniss­e – sexuelle und andere – frei ausleben. Bis dahin sind Menschen, vor allem weibliche – selbst wenn sie dieses Buch gut studieren – durch materielle Zwänge in Bezug auf Sex und Beziehunge­n eingeschrä­nkt. Für die Reprodukti­on werden Frauen heute doppelt und dreifach ausgebeute­t. Der Kampf für eine freie Sexualität bedeutet nicht eine Rückkehr zu den Bonobos. Es ist ein Kampf gegen die bürgerlich­e Gesellscha­ft und Besitzverh­ältnisse.

Christophe­r Ryan, Cacilda Jethá: »Sex. Die wahre Geschichte«, Klett-Cotta, 430 S., 24,95 Euro.

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Foto: Getty/Barcroft Media Bis zum Verbot 1904 noch Fans der Mehrfacheh­e: Religionsg­emeinschaf­t »Kirche Jesu Christi der Heiligen der Letzten Tage« in Utah

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