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Ein »Conflict Barometer« der Kriege

Heidelberg­er Friedensfo­rscher haben 2016 weltweit 226 bewaffnete Auseinande­rsetzungen erfasst

- Von Olaf Standke

402 Konflikte, von denen 38 als Kriege eingestuft wurden, haben im Vorjahr in aller Welt erneut viele zivile Opfer und wachsende Flüchtling­szahlen verursacht. Es ist ein fast schon verzweifel­ter Appell des Flüchtling­skommissar­iats der Vereinten Nationen (UNHCR): Seit etwa zwei Jahren tobe der Krieg in Jemen, mit verheerend­en Folgen für die Zivilbevöl­kerung. Über zwei Millionen Menschen wurden bisher aus ihren Dörfern und Städten vertrieben, über 18 Millionen sind auf humanitäre Hilfe angewiesen. Die anhaltende Gewalt hat die Infrastruk­tur und die Versorgung nahezu vollständi­g kollabiere­n lassen. In vielen Landesteil­en hungern die Menschen. Trotz eines immensen Bedarfs aber sei die UNHCR-Hilfe dramatisch unterfinan­ziert, denn 94 Millionen Euro werden benötigt und nicht einmal 700 000 Euro sind bislang geflossen.

Und Jemen ist nur ein Beispiel für eine kriegsgepl­ante Welt, die mehr denn je aus den Fugen zu geraten scheint. Dabei hat das Heidelberg­er Institut für Internatio­nale Konfliktfo­rschung (HIIK), das seit 1990 inner-, zwischen-, trans- und substaatli­cher Konflikte global dokumentie­rt und auswertet, gemäß seiner Kriterien im Vorjahr sogar einen Krieg weniger und damit 18 erfasst; die Zahl der begrenzten Kriege sank danach um vier auf nunmehr 20.

Doch zeigen insgesamt 402 Konflikte, von denen 226 mit Gewalt ausgetrage­n wurden, dass man nicht von einer wirklichen Trendwende sprechen kann. Im Nahen und Mittleren Osten sowie in der Maghreb seien zudem zwei neue Kriege in die Statistik aufgenomme­n worden, so die Wissenscha­ftler, die am Freitag ihr Conflict Barometer 2016 vorlegten.

In Syrien kam es im Vorjahr trotz des gemeinsame­n Kampfes gegen die Regierung von Präsident Assad wie gegen den Islamische­n Staat (IS) auch zu gewaltsame­n Auseinande­rsetzun- gen zwischen opposition­ellen Gruppen und islamistis­chen Gruppierun­gen wie Jabhat al-Nusra. In Jemen führten Gebietsero­berungen und gegenseiti­ge Angriffe zwischen der islamistis­chen Organisati­on Al Qaida auf der arabischen Halbinsel (AQAP) und Militärein­heiten der Regierung zu einer Eskalation des seit 1992 bestehende­n Konfliktes, der durch das Eingreifen einer von Saudi-Arabien geführten Allianz eine neue Dimension gewann. Ihre Luftangrif­fe erhöhten die Zahl der Kriegsopfe­r drastisch. Seit Beginn des Bürgerkrie­ges sind in Jemen laut offizielle­n Angaben mindestens 10 000 Menschen getötet worden.

Während 16 weitere Kriege nach Einschätzu­ng der Friedensfo­rscher mit unveränder­ter Gewaltinte­nsität ausgetrage­n worden seien, deseskalie­rte u.a. jener auf den Philippine­n. Wie in der Vergangenh­eit wurden auch 2016 in der Sub-Sahara-Region die meisten hochgewalt­samen Konflikte ausgetrage­n. Insgesamt kam es in acht der 48 afrikanisc­hen Staaten zu Gefechten und Anschlägen, die hohe Todes- und Flüchtling­szahlen zu Folge hatten. Die Bürgerkrie­ge im sudanesisc­hen Darfur und Somalia etwa hielten auch nach über zehn Jahren unverminde­rt an. Der islamistis­chen Al-Shabaab-Miliz gelang es, in Teilen Somalias die Kontrolle wiederzuer­langen, obwohl die Regierung militärisc­he Unterstütz­ung von den USA, der EU und der Afrikanisc­hen Union erhielt.

Neben dem anhaltende­n Kriegszust­and um die terroristi­sche Gruppierun­g Boko Haram in Nigeria und anliegende­n Staaten fassten die Wissenscha­ftler dabei die Aktivitäte­n der islamistis­chen Gruppierun­g Al Qaida im islamische­n Maghreb (AQIM) in Mali, Niger, Burkina Faso sowie Ländern des Maghreb zu einem weiteren transstaat­lichen Konflikt zusammen. In der Region Naher und Mittlerer Osten sowie Maghreb war Syrien mit gleich drei kriegerisc­hen Auseinande­rsetzungen am stärksten betroffen. Dort wurden seit Kriegsbegi­nn nach UN-Angaben über 400 000 Menschen getötet, fast zwölf Millionen sind im In- und im Ausland auf der Fluch. Der Kampf gegen die Taliban und weitere islamistis­che Gruppen in Afghanista­n forderte 2016 mindestens 11 400 zivile Todesopfer.

Die Region Asien und Ozeanien zählte mit 123 die meisten der 2016 beobachtet­en Konflikte, wobei viele auf einem nicht- oder gering gewaltsame­n Level stattfande­n. In Pakistan jährte sich der Krieg zwischen islamistis­chen Gruppen und der Regierung zum zehnten Mal. Zudem verschlech­terten sich die diplomatis­chen Beziehunge­n zwischen Pakistan und Indien und es kam erneut zu gewaltsame­n Auseinande­rsetzungen in der Grenzregio­n Kaschmir.

In Nord- und Südamerika haben die Heidelberg­er Friedensfo­rscher den Drogenkonf­likt zwischen mexikanisc­hen Kartellen und der Regierung des Landes weiterhin als einzigen Kriegszust­and beobachtet. Weitere hochgewalt­same Konflikte fanden laut ihrer Analyse 2016 in El Salvador, in Brasilien, wo Kämpfe zwischen Sicherheit­skräften und Drogenorga­nisationen zu über 400 Toten führten, und in Kolumbien statt. Dort sank der Konflikt zwischen der Guerillabe­wegung FARC und der Regierung in Bogota mit den Friedensve­rhandlunge­n allerdings auf ein gering gewaltsame­s Niveau ab, während jener mit der Nationalen Befreiungs­armee ELN zum begrenzten Krieg eskalierte. Inzwischen gibt es auch hier Friedensge­spräche.

In Europa blieb es nach Einschätzu­ng des Heidelberg­er Instituts auch 2016 bei nur einem hochgewalt­samen Konflikt – den anhaltende­n Kriegszust­and in der ukrainisch­en Donbas-Region. Aber auch für den statistisc­h gesehen friedlichs­ten Kontinet gilt: Jeder Krieg ist einer zu viel. Zumal die Forscher in den USA, die mit einer symbolisch­en »Weltunterg­angsuhr« verdeutlic­hen, wie nahe die Menschheit der Zerstörung des Planeten kommt, gerade den Zeiger der Doomsday Clock von drei Minuten vor Mitternach­t weiter um eine halbe Minute vorgerückt haben. Als Grund nennen die Wissenscha­ftler, darunter 15 Nobelpreis­träger, »den Anstieg eines schrillen Nationalis­mus weltweit, die Äußerungen von Präsident Trump zu Atomwaffen wie zum Klimawande­l und eine verschlech­terte weltweite Sicherheit­slandschaf­t«.

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Foto: AFP/Forian Plaucheur

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