Bundesweit einmalige Giftgasfalle?
Riesige Rüstungsaltlast in Lüneburger Heide vermutet
Die Lunge wird verätzt, dann erstickt der Mensch bei vollem Bewusstsein: So wirkt der chemische Kampfstoff Phosgen. Ihm sind die meisten der rund 90 000 Gastoten des ersten Weltkriegs anzulasten. Ebenfalls eingesetzt, zuerst von deutschen Truppen, wurde in jener Zeit das Hautgift Lost, auch Senfgas genannt. Es verursacht schwere Gewebeschäden, betroffenen Gliedmaßen droht die Amputation. Werden Lost-Dämpfe eingeatmet, zerstören sie die Bronchien, führen zum Tod.
Große Bestände dieser Giftwaffen sind nach Ende des zweiten Weltkriegs bei Munster in der Lüneburger Heide in dem mittlerweile zugekippten Dethlinger Teich »entsorgt« worden – wie harmloser Müll. Vermutet werde »eine bundesweit einmalige Rüstungsaltlast«, konstatiert der Heidekreis. Er und das Niedersächsische Umweltministerium haben jüngst vereinbart, das betroffene Areal gründlich untersuchen zu lassen. Rund 2,9 Millionen Euro wird das kosten, zwei Millionen davon trägt das Land, den Rest der Kreis.
Weitaus teurer dürfte die Sanierung des Geländes werden, die nach bisherigen Planungen frühestens 2021 beginnen könnte. Zurzeit sind dafür gut 50 Millionen Euro veranschlagt. »Ich erwarte auch vom Bund eine entsprechende Beteiligung«, sagte Umweltminister Stefan Wenzel (Grüne) beim Unterzeichnen der Vereinbarung mit dem Landkreis.
Zu ihm gehört die Garnisonstadt Munster, in deren Nähe vor 100 Jahren eine Rüstungsfabrik entstand. Ihre Produkte: Granaten für den Gaskrieg. Die Fabrik explodierte 1919, wurde völlig zerstört. An gleicher Stelle errichteten die Nazis 1935 Anlagen zum Füllen von Bomben mit chemischen Kampfstoffen, die aber nie zum Einsatz kamen. Kesselwagen zum Antransport der Gifte wurden nach ihrer Leerung mit Wasser ausgespült, das wiederum landete im nahen Dethlinger Teich.
Er wurde auch nach Kriegsende als »Endlager« für den flüssigen Tod missbraucht. Britische Truppen ließen Kampfstoffbehälter, die noch transportsicher waren, zur Nord- oder Ostsee karren und darin »entsorgen«. Giftbomben und Giftbehälter aber, deren Abtransport zu gefährlich erschien, kamen in den Teich.
Zu den Giftmengen darin gibt es keine Aufzeichnungen, nur Aussagen von Zeitzeugen. In das Gewässer gelangten demnach bis zu 300 entschärfte Phosgenbomben, 300 Fässer mit je 250 Litern des selben Kampfstoffes und 100 Fässer zu je 100 Litern Lost. Hinzu kommt Munition, die der Kampfmittelräumdienst der niedersächsischen Polizei bis 1952 in den Teich warf, ehe dieser zugeschüttet wurde.
Entstanden war das Gewässer einst beim Abbau von Kieselgur. Das Reste des vielfach verwendbaren Minerals könnten den Teichboden isolieren und das Durchdringen der Gifte verhindern, wurde vermutet, aber: Ende 2016 ergaben Analysen laut einer Dokumentation des Kreises, »dass im unmittelbaren GrundwasserAbstrom bereits eine Schadstofffahne mit einer Breite von mehr als 100 Metern vorhanden ist«.
Weitaus präzisere Ergebnisse als alle Messungen, die es bereits seit 1957 durch Bohrungen ins Grundwasser gibt, werden von den nun beschlossenen, gründlichen Untersuchungen erwartet. In ihrem Verlauf soll der einstige Teich, dessen Lage nur noch durch eine Senke erkennbar ist, »geöffnet« werden. Es sei zu erwarten, so der Heidekreis, dass bereits bei diesen Arbeiten chemische Kampfstoffe gefunden werden. Jene Altlasten, vor denen eine Bürgerinitiative schon vor knapp 30 Jahren warnte.