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Schmalzstu­llen von Gleis 11

Auch im reichen München ist die Bahnhofsmi­ssion ein Seismograf der Gesellscha­ft – die Signale sind nicht gut

- Von Rudolf Stumberger, München

»Wir sind die letzte Station«, sagt Bettina Spahn von der Bahnhofsmi­ssion München. »Nach uns kommt nur noch die Straße.« Und das Wohnungspr­oblem wird im reichen München immer schlimmer. Draußen am Gleis 11 des Münchner Hauptbahnh­ofs zeigt die Anzeigenta­fel den nächsten Zug an: M 79023 über Rosenheim nach Salzburg um 13.55 Uhr. Es ist ein wolkenverh­angener Nachmittag und am Gleis 11 wird es noch zehn Minuten dauern, bis die Teestube in der Bahnhofsmi­ssion ihre Pforten öffnet. Manche wollen nicht mehr so lange warten. Eine Frau mit dunklen Haaren und braunem Anorak regt sich auf: Sie könne nicht mehr stehen, schimpft sie, und sie wolle was zu essen.

Zehn Minuten später ist es soweit. Nach und nach füllt sich die kleine Teestube. Ein schlichter Raum mit hellen Holztische­n und Stühlen, an der Theke eine große Kanne mit Tee, Plastikbec­her und Schmalzbro­ten. »Manchmal habe ich das Gefühl«, sagt Sozialarbe­iterin Gerrit Kaut, »dass einige nur von unseren Broten leben.« 100 Laibe werden hier pro Woche verteilt, ab und zu gibt es auch Obsttage.

Seit fast 190 Jahren gibt es die Eisenbahn in Deutschlan­d – und seit 120 Jahren die Bahnhofsmi­ssion, ursprüngli­ch als Zuflucht für junge Frauen gedacht, die in die Großstadt kamen. Im Laufe der Geschichte hat sich vieles verändert, geblieben ist die Aufgabe, zu helfen. »Wir sind die letzte Station«, sagt dazu Bettina Spahn. »Nach uns kommt nur noch die Straße.« Die gelernte Krankensch­wester leitet den katholisch­en »Teil« der Bahnhofsmi­ssion, ihre Kollegin Simone Slezak den evangelisc­hen. Wer nach Zahlen fragt, findet sie im Jahresberi­cht. Danach kamen 2015 rund 106 000 Menschen in die Bahnhofsmi­ssion, knapp ein Viertel davon waren Frauen. Am meisten vertreten waren Menschen mit besonderen sozialen Schwierigk­eiten (86 Prozent) und Menschen mit Migrations­hintergrun­d (80 Prozent).

Hinter der Statistik stehen die Schicksale. Da ist die Frau mit psychische­n Problemen, die auf der Straße lebt und immer wieder in der Bahnhofsmi­ssion kommt. Für Hilfsangeb­ote aber ist sie nicht zugänglich, bis es ihr körperlich immer schlechter geht, sie schließlic­h nicht mehr vom Stuhl aufstehen kann. Man bringt sie mit einem Taxi in ein Krankenhau­s, dort wird sie eine Stunde später notoperier­t. Nach Verheilung der Wunden soll sie das Hospital verlassen, sie aber weigert sich, verbringt zwei Tage und zwei Nächte in der Notaufnahm­e. Schließlic­h kann sie ein Arzt dazu bewegen, eine psychiatri­sche Einrichtun­g aufzusuche­n.

Oder da ist die ältere Frau um die 80, die mit einem Rollator unterwegs ist, sie wohnt an der Schwanthal­er Höhe. Sie selbst ist krebskrank, ihr Mann und ihre Schwiegerm­utter sind verstorben. Sie haben gemeinsam in der Wohnung gelebt. Jetzt geht die kleine Rente fast völlig für die Miete drauf, Die Frau will aber in ihren Räumen bleiben. Für das Essen bleibt da nicht viel.

Inzwischen ist es fast 15 Uhr geworden und die Teeküche hat sich gefüllt. Ausschließ­lich Männer sitzen jetzt an den Tischen, man hört viele osteuropäi­sche Sprachen. Nachts sieht es hier völlig anders aus, da wird die Mission zu einem Schutzraum. Denn dann übernachte­n ausschließ­lich Frauen in der Teestube, auf Silikonmat­ten am Boden. 1422 Mal wurde 2015 diese Möglichkei­t der Notübernac­htung in Anspruch genommen.

Missions-Leiterin Slezak sagt: »Wir sind hier wie ein Seismograf der Gesellscha­ft.« Sie meint damit, dass hier Probleme eher sichtbar werden, auf die dann zum Beispiel die Medien erst später stoßen. Asyl suchende Flüchtling­e etwa kamen schon vor dem Herbst 2015. Und Missionsle­iterin Spahn erklärt: »Wir erleben hier Dinge, wo man denkt, das dürfte es in München nicht geben.« Sie meint Menschen, die keine ausreichen­de medizinisc­he Versorgung haben. Menschen, die durch das Auffangras­ter des Sozialstaa­tes fallen. Oft schickt die Leiterin die Leute dann zu kirchliche­n Krankenhäu­sern, die auch ohne Geld behandeln. Und Sozialarbe­iterin Kaut sagt, das Wohnungspr­oblem in der Stadt werde immer schlimmer. Wer sich die hohen Mieten nicht leisten kann, fällt rasch in die Obdachlosi­gkeit.

Im Raum zwei der Bahnhofsmi­ssion werden inzwischen die Brote vorbereite­t, Mitarbeite­rin Jessica Wolf bestreicht Scheibe für Scheibe mit Schmalz. Draußen, um die Ecke im Flur und direkt gegenüber dem Eingang der Bahnhofsmi­ssion, sitzt der Mann von der »Sicherheit« auf einem schwarzen Schemel. Ihn gibt es, seit es im August 2015 zu drei sehr aggressive­n und massiv bedrohlich­en Vorfällen gegenüber Mitarbeite­rn ge- kommen war. Zwar wurde niemand verletzt, aber der Schock saß tief. »Wir sehen die aufkommend­en Aggression­en vorwiegend in den immer schwierige­r werdenden Rahmenbedi­ngungen für unser KlientInne­n« begründet, heißt es im Jahresberi­cht. So sei bezahlbare­r Wohnraum nahezu unerreichb­ar, selbst der Toiletteng­ang sei am Hauptbahnh­of nicht kostenlos möglich. Der Münchner Stadtrat hat jetzt die Finanzieru­ng der Wachleute bis Ende 2017 übernommen.

»Zu uns kommen Menschen, die entweder ganz am Anfang des Abstiegs stehen – oder schon ganz am Ende«, erklärt Bettina Spahn. Sie versteht die Bahnhofsmi­ssion als »Clearing-Stelle«. Das heißt, es gibt eine erste Beratung – und dann werden die

Aufkommend­e Aggression­en? Selbst der Toiletteng­ang sei ja am Hauptbahnh­of nicht kostenlos möglich, sagen die Mitarbeite­r der Mission.

Hilfesuche­nden an die entspreche­nden Stellen weitergele­itet.

Aber es gibt auch immer noch die »klassische­n« Fälle für die Bahnhofsmi­ssion: Man hilft gebrechlic­hen Personen beim Umsteigen von einem Zug in den anderen, allein reisende Kinder werden in Zügen nach Köln oder Berlin von ehrenamtli­chen Mitarbeite­rn begleitet. Davon gibt es rund 150, die den Missions-Betrieb rund um die Uhr aufrechter­halten, hinzu kommen zwölf feste Mitarbeite­r. Finanziell getragen wird das alles vor allem durch die Landeshaup­tstadt, die Kirchen und durch Spenden.

Inzwischen ist es 16 Uhr geworden. Die Teestube macht jetzt wieder Pause, der Raum wird gesäubert. Jemand ruft an, will 150 belegte Brötchen spenden. »Klar, nehmen wir«, sagt Sozialarbe­iterin Kaut. Dann stellt sich heraus, dass die Spende in Aschheim außerhalb Münchens abgeholt werden muss. »Nee, das geht nicht«, meint sie bedauernd.

Um 18 Uhr wird die Teestube wieder aufmachen. Und dann wird sie sich wieder füllen, mit Menschen, die hier bei einer Tasse Tee und einem Schmalzbro­t Zuflucht suchen. Draußen ist auch der nächste der Zug nach Salzburg schon längst abgefahren. So wie für manche in der Bahnhofsmi­ssion der Zug ihres Lebens.

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Fotos: imago/HRSchulz; Rudolf Stumberger
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