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Nur eine Frage der Definition?

Das Gefährdung­spotenzial von hormonähnl­ichen Substanzen für den Menschen ist umstritten – ebenso die Art und Weise, wie der Umgang mit ihnen geregelt werden sollte.

- Von Bernd Schröder

Seit einigen Jahren machen chemische Verbindung­en von sich reden, die aufgrund ihrer molekulare­n Struktur die natürliche biochemisc­he Wirkung von Hormonen nachahmen und beeinfluss­en können: die sogenannte­n endokrinen Disruptore­n (ED) oder Umwelthorm­one. Wissenscha­ftler berichten immer wieder von Effekten, die schon bei geringen Konzentrat­ionen dieser Stoffe auftreten können. Wie etwa bei den nicht natürlich vorkommend­en Nonylpheno­len, die mittlerwei­le in der EU in zahlreiche­n Anwendunge­n verboten sind: Wenige Mikrogramm pro Liter im Wasser führten in Labortests bei Fischen zu ausschließ­lich weiblichen Nachkommen.

ED werden zunehmend mit schädliche­n Folgen für Wachstum und Entwicklun­g auch beim Menschen in Verbindung gebracht. Sie können unter anderem zu erhöhten chronische­n Krankheits­belastunge­n wie Fettleibig­keit und Diabetes beitragen oder die Funktionen der Fortpflanz­ungsorgane und der Schilddrüs­e beeinträch­tigen.

Ein gemeinsame­r Bericht der Weltgesund­heitsorgan­isation (WHO) und des Internatio­nalen Programms für Chemische Sicherheit (IPCS) aus dem Jahre 2002 verdichtet­e bekannte ED-Merkmale zu einer internatio­nal anerkannte­n wissenscha­ftlichen Definition dieser Stoffe. Was jedoch für die Genehmigun­gsbehörden endokrine Disruptore­n sind, blieb Gegenstand anhaltende­r Diskussion­en – bisher ohne eindeutige Antwort.

Eine tiefe Kluft trennt die Ansichten von Wissenscha­ftlern und Regulatore­n in der Frage, welche Tests geeignet sind, um Stoffe als endokrine Disruptore­n zu identifizi­eren.

Die Studien in Industrie und Behörden orientiere­n sich an genormten Richtlinie­n, die mit ihrer Jahrzehnte zurücklieg­enden Einführung die Qualität und Reproduzie­rbarkeit solcher Erhebungen sicherstel­len sollten.

Kritiker aus dem akademisch­en Umfeld führen ins Feld, dass einige diese standardis­ierten Tests auf veralteten Methoden beruhen und nun zum Hindernis für die Etablierun­g modernster Methodik würden. Die Industrie steht der Hinzuziehu­ng solcher neuen Methoden ablehnend gegenüber, obwohl in den letzten Jahren eine beträchtli­che Menge neuer Erkenntnis­se auf ihr Konto gingen – mit zum Teil besorgnise­rregendem Charakter.

In den USA versuchen Akademiker und Regulatore­n, die Kluft zwischen beiden Seiten zu überbrücke­n. Im CLARITY-BPA-Projekt arbeiten zwölf Universitä­tslabors und das Toxikologi­ezentrum der Food and Drug Administra­tion (FDA) daran, das Protokoll standardis­ierter Tests mit Erkenntnis­sen neuester Methoden zu verbinden – für die Beteiligte­n ein Zusammenpr­all der Kulturen.

Das Projekt soll neue Erkenntnis­se zur Gefährlich­keit von Bisphenol A (BPA) liefern, dem in der Öffentlich­keit vielleicht bekanntest­en ED-Vertreter. Produktion und Verkauf von Babyflasch­en aus BPA-haltigem Polycarbon­at sind mittlerwei­le verboten. In anderen Anwendunge­n gilt BPA weiterhin als sicher. Die Europäisch­e Behörde für Lebensmitt­elsicherhe­it (EFSA) kam 2015 im Rahmen einer Neubewertu­ng von BPA zum Schluss, dass von der Substanz keine Gesundheit­sgefährdun­g für die Verbrauche­r ausginge.

Ein weiteres Ergebnis der EFSANeubew­ertung war die Schlussfol­gerung, dass die vorliegend­en Daten keine Beweise dafür lieferten, dass BPA schädliche Wirkungen für die Gesundheit speziell bei niedrigen Do- sen habe. Folglich sieht man auch keine Notwendigk­eit, ED anders zu behandeln als weitere Substanzen mit Gesundheit­s- oder Umweltbede­nken.

Die Dosis-Wirkungs-Beziehunge­n bei ED sind seit Jahren umstritten, ebenso Hypothesen zur Wirkung niedriger Dosen und deren biologisch­er Bedeutung: Handelt es sich um eine schädliche Wirkung oder nur um eine Anpassungs­reaktion des Organismus? Die Prüfung dieser Hypothesen wäre entscheide­nd für die Einschätzu­ng der ED. Denn sollten sie sich beweisen lassen, stünden Umwälzunge­n bei grundlegen­den Konzepten der Toxikologi­e und der Risikobewe­rtung ins Haus.

Die Regulierun­g von ED in der EU liegt im Zuständigk­eitsbereic­h der Generaldir­ektion Gesundheit und Lebensmitt­elsicherhe­it der EU-Kommission. Dort baut man auf den wissenscha­ftlichen Rat der EFSA. 2015 hatte der Europäisch­e Gerichtsho­f auf eine Untätigkei­tsklage entschiede­n, dass die EU-Kommission durch fortgesetz­tes Bremsen gegen EU-Rechtsvors­chriften verstoßen hat, nach denen bis Ende 2013 einheitlic­he Kriterien zur Bestimmung hormonell schädigend­er Eigenschaf­ten festgelegt worden sein sollten.

Ein 2013 erschienen­er gemeinsame­r WHO/UNEP-Bericht erklärte die herkömmlic­he Risikobewe­rtung im Falle endokriner Disruptore­n für ungeeignet. Vielmehr sieht der Bericht diese Verbindung­en als eine globale Bedrohung, für die eine Lösung gefunden werden müsse. Seit dem zehn Jahre zurücklieg­enden WHO/IPCSBerich­t waren neue Gesichtspu­nkte hinzugekom­men, wie etwa über Generation­en weitergere­ichte Effekte oder komplexe Wirkungen von EDCocktail­s. Das WHO-Papier geht von bis zu 800 bekannten Substanzen mit ED-Potenzial aus, die teilweise in großen Mengen hergestell­t werden.

Bei der EFSA ließ man sich durch den WHO/UNEP-Bericht jedoch nicht von der einmal eingeschla­genen Marschrich­tung abbringen. Kritiker Bisphenol-A ist in vielen Kunststoff­en enthalten und deshalb besonders umstritten. sehen hier eine Abkehr vom Prinzip einer Politikges­taltung auf der Basis wissenscha­ftlicher Erkenntnis­se, hin zu politikbas­ierter Interpreta­tion der Wissenscha­ft. Der Streit um die Einführung wissenscha­ftlich gesicherte­r Kriterien, die definieren, was unter einem endokrinen Disruptor im regulatori­schen Kontext zu verstehen ist, berührt die wirtschaft­lichen Interessen insbesonde­re der chemischen Industrie.

2009 hatte das Europäisch­e Parlament für eine neue Pestizidre­gulierung gestimmt: Pestizide, die bereits als ED definiert wurden, sollten nicht mehr auf den Markt kommen bzw. weiter eingesetzt werden, es sei denn, die Exposition bliebe vernachläs­sigbar. Dieser von Umweltwiss­enschaftle­rn favorisier­te gefahrenba­sierte Ansatz führte zu Spannungen mit internatio­nalen Handelspar­tnern, allen voran mit den USA.

Mittlerwei­le drängt die EU-Kommission mit einem aktuellen Vorschlag auf einen stärker risikobasi­erten Ansatz der Pestizidre­gulierung. Sie hat den ursprüngli­chen Text abgeändert: Nun sei es ausreichen­d, das Risiko von Fall zu Fall zu bewerten, falls Probleme nach der Markteinfü­hrung aufträten.

Die Umsetzung entspräche einer Abkehr vom Vorsorgepr­inzip, das eine tragende Säule der europäisch­en Umweltpoli­tik ist und dem zufolge Belastunge­n oder Schäden für Umwelt und Gesundheit von vornherein zu vermeiden oder weitestgeh­end zu verringern sind. Dieses Prinzip kollidiert mit den Auffassung­en zur Regulierun­g von Chemikalie­n in Nordamerik­a: Dort werden Substanzen in einem risikobasi­erten Ansatz erst reguliert, wenn ihre Schädlichk­eit für Umwelt und Gesundheit durch wissenscha­ftliche Studien zweifelsfr­ei belegt werden.

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Foto: iStock/monticelll­o

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