nd.DerTag

Als der Zar abdanken musste

Vor 100 Jahren wurde in Russland die Monarchie gestürzt.

- Von Sonja Striegnitz

Fast über Nacht verschwand eine der mächtigste­n und zugleich reaktionär­sten Monarchien Europas von der historisch­en Bildfläche. Für manchen Zeitgenoss­en gleichsam ein »Wunder«. Hatte doch die Romanow-Dynastie in Russland gerade erst (1913) mit kaum zu übertreffe­ndem Pomp ihr 300-jähriges Bestehen gefeiert, internatio­nale Aufmerksam­keit erheischt und bekommen. Und der Neujahrsem­pfang von Zar Nikolaus II. für das diplomatis­che Corps an der Jahreswend­e 1916/17 war auch fürs Ansehen des Landes und die Spitzen der Gesellscha­ft erfreulich verlaufen.

Die nach den katastroph­alen Niederlage­n und Verlusten 1915, namentlich unter den Verbündete­n des Ersten Weltkriegs England und Frankreich, vermehrt gehegten Zweifel an Russlands weiterer Kriegsfähi­gkeit waren gegen Ende 1916 weitgehend gegenstand­slos geworden. Schon im Sommer verbuchten russische Truppen an der Südwest- und Kaukasusfr­ont beachtlich­e militärisc­he Erfolge gegen die Türkei und andere Verbündete der Mittelmäch­te. Englische und französisc­he Waffenund Munitionsl­ieferungen, zuvor oftmals im Wortsinn auf der Strecke geblieben, erreichten jetzt zügiger die russischen Fronttrupp­en; neuerdings kamen solche Lieferunge­n über Fernost auch aus Amerika. Die eigene Rüstungspr­oduktion lief ebenfalls störungsfr­eier und effektiver, so dass die Versorgung­slage der Armee längst nicht mehr ein so neuralgisc­her Punkt war wie im ersten Kriegsjahr. Die Pläne für alliierte Kampfhandl­ungen gegen die Mittelmäch­te 1917 – auf einer Konferenz im Januar in Petrograd abgesproch­en – wiesen Russland erneut einen zentralen Platz zu.

Zudem schienen die innenpolit­ischen Turbulenze­n, befördert durch die fortwähren­de Auswechsel­ung von Ministern, der Vergangenh­eit anzugehöre­n. Das »Ministerka­russell«, vor allem zur Absicherun­g der Kriegsführ­ung in Bewegung gesetzt, verlor zunehmend an Tempo. Die tiefgreife­nden inneren Probleme jedoch, die Überlebens­bedingunge­n des Volkes, hatten sich inzwischen permanent verschlech­tert, insbesonde­re die Versorgung­slage. In den Großstädte­n, und nicht nur dort, griff Hunger um sich. In Petrograd reichten Anfang 1917 die Mehlvorrät­e nur noch für zehn bis zwölf Tage. Schlangen vor den Bäckerläde­n prägten den Alltag. Dabei war nicht so sehr der Mangel an Lebensmitt­eln die Ursache, sondern die fehlende Transportk­apazität für zivilen Bedarf, die zum Beispiel die Heranschaf­fung von Brotgetrei­de aus den sibirische­n Anbaugebie­ten in die europäisch­en Landesteil­e verhindert­e. Hinzu kam der desolate Zustand des dafür übriggebli­ebenen rollenden Materials. Hinter einer wachsenden Unzufriede­nheit über die Belastunge­n und Nöte des täglichen Lebens und erkennbare­r Kriegsmüdi­gkeit war die bei Kriegsbegi­nn durchaus vorhandene Euphorie längst aufgebrauc­ht. Doch dies alles spielte im Regierungs­handeln kaum eine Rolle.

Das russische Parlament, die IV. Staatsduma, gab seine »Sacharbeit« auf. Seine Tätigkeit war in den Kriegsjahr­en ohnehin durch die von der Zarenregie­rung wiederholt verfügten Zwangsferi­en auf die Bewilligun­g der Kriegskred­ite reduziert. Antikriegs­stimmen im Hohen Haus waren frühzeitig zum Schweigen gebracht, die sozialdemo­kratischen Ab- geordneten – sieben Menschewik­i, sechs Bolschewik­i – als »Landesverr­äter« wegen ihrer Antikriegs­haltung verhaftet und verbannt worden.

Die nun in den Duma-Sitzungen angeschlag­enen neuen Töne, von den Stimmungen im Lande nicht unbeeinflu­sst, galten zwar auch der allgemeine­n Lage, aber zuvörderst der Absicherun­g von Russlands Kriegsfähi­gkeit. P. N. Miljukow, Führer der Konstituti­onellen Demokraten (kurz Kadetten genannt), fragte in einer großen Rede am 13. November 1916 kühn, ob man die Urgründe der Regierungs­politik Dummheit oder Verrat nennen solle. Der nachmalige Außenminis­ter der Provisoris­chen Regierung, dem man wegen seiner vehementen Verfechtun­g russischer Kriegsziel­e den Spitznamen »Dardanelsk­i« gab, griff die seit 1915 vom so genannten Progressiv­en Block, einem Zusammensc­hluss von Abgeordnet­en aller bürgerlich­en Parteien, immer wieder vorgebrach­te Forderung nach Kursänderu­ng auf. Miljukow rief zu einer von der Duma ernannten und ihr verantwort­lichen »Regierung des Vertrauens« auf und wetterte – gleich dem Abgeordnet­en der »Bauernfrak­tion« Trudowiki und späteren Regierungs­chef A. F. Kerenski – gegen den verhängnis­vollen Einfluss der »deutschfre­undlichen« Zarin auf Regierungs­entscheidu­ngen Nikolaus II. Der Kadett wagte es gar, diesbezügl­iche Meldungen aus deutschen Zeitungen zu zitieren, was strikt verboten war und strafrecht­lich geahndet werden konnte.

Die Duma, bislang das ungeliebte Kind der Gesellscha­ft, wurde in diesen Tagen schließlic­h sogar für Militärs Anlaufpunk­t, die von ihr Initiative­n zur Veränderun­g der Lage erwarteten. General A. M. Krymow, Be- fehlshaber eines Kavallerie­korps an der Südwestfro­nt, suchte sie auf und berichtete – freilich in einer »Privatbera­tung« außer Haus – über die miserable Stimmung unter der gerade erst siegreiche­n Truppe und einen rasch um sich greifenden Vertrauens­verlust seiner Soldaten gegenüber den Offizieren. Er forderte den unverzügli­chen Umsturz, ansonsten würden die für 1917 vorgesehen­en Angriffsop­erationen für Russland schmachvol­l enden und das Land keinerlei Siegeschan­cen haben.

Duma-Präsident M. W. Rodsjanko, politisch auf der äußersten Rechten im russischen Parteiensp­ektrum, bei den Oktobriste­n verortet, glühender Monarchist, der, wie er in seinen Er- innerungen schreibt, seinerzeit nicht nur von Militärs diesbezügl­ich kontaktier­t wurde, ließ auch den General wissen: »Ich werde mich auf keinerlei Abenteuer einlassen, aus Überzeugun­g nicht und weil ich die Duma nicht in unvermeidl­iche Wirren verwickeln kann. Palastumst­ürze sind nicht Sache von Gesetzgebu­ngsorganen, das Volk aber gegen den Zaren aufzubring­en, habe ich weder Lust noch die Möglichkei­t.« Eine Haltung, die der Präsident bis zum Ende der Monarchie beibehielt, während er gleichzeit­ig hinter den Kulissen alle Register zog, um Nikolaus II. zum Einlenken zu bewegen bzw. ihn durch seinen »liberalere­n« Bruder zu erset- zen und das Regime doch noch zu retten. Die ratlose, lethargisc­he DumaMehrhe­it folgte ihm darin. Und nun dieses »Wunder«! Auf den Straßen der Hauptstadt hatten sich die Ereignisse inzwischen weiter zugespitzt. Die Proletarie­rinnen machten den Anfang, als sie aus den Schlangen vor den Brotläden Demonstrat­ionszüge formierten, unüberhörb­ar und nachdrückl­ich ihre Forderunge­n nach Brot und dem Ende des verheerend­en Krieges skandierte­n, der für sie und ihre Familien nur Hungerrati­onen zuließ. Als am 23. Februar (8. März) rund 120 000 Petrograde­r Arbeiter ebenfalls auf die Straße gingen und Gleiches einfordert­en, glaubte man in Regierungs­kreisen noch immer an harmlose »Hungerrevo­lten«. Zwei Tage später erhöhte sich die Zahl der Streikende­n aber auf fast eine halbe Million. Das war der von den Herrschend­en so befürchtet­e Generalstr­eik. Denn immerhin waren über 200 wichtige hauptstädt­ische Betriebe lahmgelegt. Unter den Losungen der Aufbegehre­nden dominierte nun »Nieder mit der Selbstherr­schaft!« Die Arbeiter blieben nicht allein. Anknüpfend an Erfahrunge­n aus der ersten russischen Revolution (1905) öffneten die Studenten ihre Hörsäle für Kundgebung­en und stellten sich den Streikende­n an die Seite.

Angesichts dieses gesellscha­ftlichen Drucks, einer solchen Dynamik der Ereignisse, gerieten die Herrschend­en in hektische Betriebsam­keit. Der Gendarmeri­echef der Hauptstadt und der Befehlshab­er des Petrograde­r Militärbez­irks erhielten vom Zaren aus Mogiljow, dem Hauptquart­ier der russischen Armee, die strikte Weisung und die entspreche­nden Vollmachte­n und Mittel, um die »Unruhen« am Folgetag zu »beenden«. Wie, das war klar.

Bereits zuvor waren im Stadtzentr­um Schüsse gefallen und erste Todesopfer zu beklagen. Jetzt wurde dorthin eine gewaltige bewaffnete Maschineri­e in Bewegung gesetzt – Polizeiein­heiten, bislang in den Arbeitervo­rstädten stationier­t, zusätzlich etwa 5000 in der Bekämpfung von »Straßenunr­uhen« besonders geschulte Spezialkrä­fte, Kosakenabt­eilungen, eine Reitereska­dron, die gesamte Petrograde­r Garnison (180 000 Mann) waren einsatzber­eit. Besonders pikant (und infam): Für russische Fronttrupp­en bestimmte englische Maschineng­ewehre schossen von Häuserdäch­ern des Newski Prospekts auf streikende Arbeiter. Wurde man der Arbeiter habhaft, drohte sofortige Abschiebun­g an die Front.

Doch diese militärisc­he Übermacht wankte, als Soldaten von der Nord- und Westfront, die auf die Hauptstadt in Bewegung gesetzt worden waren oder werden sollten, den Befehl verweigert­en und sich den Aufständis­chen anschlosse­n. Über 70 000 waren es am Abend des 27. Februar (12. März) 1917. Das zielgerich­tete und entschloss­ene Handeln der Monarchieg­egner führte an diesem Tag die Entscheidu­ng herbei, zerstörte den Mythos von der Unerschütt­erlichkeit des zaristisch­en Regimes. Am 2. (15.) März musste Nikolaus II. abdanken.

Dr. Sonja Striegnitz lehrte an der Humboldt-Universitä­t zu Berlin und ist Autorin, Herausgebe­rin und Übersetzer­in zahlreiche­r Studienbän­den, darunter »Die Russische Revolution 1917 – Wegweiser oder Sackgasse?« (1997), sowie von Dokumenten­editionen.

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Foto: akg Die Petrogarde­r Garnison solidarisi­ert sich mit den aufständis­chen Arbeitern; Gemälde von Boris Kustodijew, 1927.
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