36 Freundschaften
In Chile ist mit der Hip-Hop-Kultur eine lebhafte Graffitiszene entstanden. Es gibt unzählige Crews, die ihre Tags und Pieces sprühen. Ein Abend mit »3636« in Santiago.
Das Klackern der Dosen kündigt an, was sie vorhaben. Die Gruppe »3636« bespricht, welche Farben sie für ihre nächtliche Tour benutzen will. Ein, vielleicht zwei Pieces sollen entstehen, getaggt werden soll auch. Piece ist der Ausdruck für ein mehrfarbiges Graffito, kunstvolle Kalligrafie meinen die einen, Vandalismus die anderen. Santiago, die Hauptstadt Chiles, ist voll davon. Neben den klassischen Murales, meist in Auftrag gegebene Wandmalereien, gibt es eine riesige Graffitiszene, die die ganze Stadt bunter machen will. Es ist fast keine Wand mehr zu sehen, die nicht entweder mit Wandmalereien, Pieces oder Tags, den kunstvollen Unterschriften von Graffiti-KünstlerInnen, bemalt wurde.
»Was wir machen, ist anders als das, was viele andere machen. Wir machen Graffiti, weil es uns Spaß macht«, meint Luche*, einer der Sprayer von »3636«, der sich an den Wänden Santiagos verewigt. Alle in der Crew haben ein eigenes Alias, das sie taggen oder in Pieces verarbeiten. Heute Abend sind Luche, PRK, Biac, Repudio, Klas und Poser, alle Mitte 20, dabei. »Andere Crews haben auch Schlägereien, sie sind sehr territorial. Vor allem, wenn es um Züge geht. Wenn man an einem Ort Waggons bemalt, den sie für sich beanspruchen, kann es sein, dass du verprügelt wirst. Wir haben darauf keine Lust«, erklärt Biac.
Alleine unterwegs sind die wenigsten. Crews, Gruppen von verschiedenen KünstlerInnen, die sich zusammentun, um Wände zu bemalen, sind die Normalität. Dies hat oft auch pragmatische Gründe, müssen die Bilder doch schnell gemalt werden, will man nicht erwischt werden – schließlich sind die meisten Pieces und Tags illegal. Vier Dosen malen schneller als eine.
Die sechs Jungs haben sich auf eine Farbkombination geeinigt. Das heißt, es kann losgehen. Gemächlich verlassen sie die Wohnung und gehen hinaus ins nächtliche Santiago. Ihr Ausflug fängt im hippen Barrio Brasil an, einem der Ausgehviertel im Zentrum Santiagos. Luche meint: »Es gibt sehr viele legale Arbeiten hier, vor allem um die Plaza Yungay und im Barrio Bellavista, aber die Kalligrafie, die man hier auf der Straße sieht, ist illegal.«
Es ist Mitternacht und die Straßen sind fast leer. Aber noch nicht leer genug, um malen zu gehen. Die Jungs gehen erst mal ein Bier holen und setzen sich auf eine Bordsteinkante. Horrorgeschichten werden ausgetauscht. »Als ich einmal mit einem ar- gentinischen Freund taggen war, sind auf einmal ein Haufen Männer mit Stöcken aus einem Laden rausgekommen und haben uns mit einem Pick-up verfolgt. Sie haben einen von uns bekommen, ihn dann aber gehen lassen«, erzählt Luche. Jeder der sechs Jungs wurde schon mal von der Polizei oder wütenden AnwohnerInnen erwischt.
Das Bier ist alle und sie ziehen weiter in die Richtung, wo das erste Piece entstehen soll. Auf einer verlassenen Kreuzung ist ein Laden mit einem Rollladen verschlossen, den sie bemalen wollen. Aber entgegen aller Erwartung sind trotz der späten Stunde noch Leute auf der Straße. Zwei Obdachlose sitzen in einem Hauseingang und gegenüber verkauft ein Geschäft noch Bier durch ein Stahlgitter. Ernüchterung macht sich breit und die Jungs fangen an zu diskutieren. Ziemlich schnell entschließt sich die Gruppe, das Piece doch zu machen. Die Lust zu malen ist größer als die Angst vor Stress. Aber trotzdem fragen PRK und Poser die zwei Obdachlosen, ob es in Ordnung für sie ist, wenn neben ihnen gemalt wird. Nachdem die beiden sagen, es würde sie nicht stören, geht es los: Luche, Repudio und Biac malen, die anderen stehen Schmiere. Die Dosen klackern erneut und innerhalb von drei Minuten entsteht, begleitet vom scharfen Zischen der Farbe, ein zwei mal drei Meter großes Gemälde auf dem Fensterschutz. Routiniert werden erst Outlines, die Konturen der einzelnen Buchstaben, gezogen, dann ausgefüllt und Schicht für Schicht ein trister brauner Rollladen in ein buntes »3636« umgewandelt. »Mit Graffiti habe ich gelernt in Gruppen zu arbeiten, jeder hat bei einem Piece seine Aufgabe, die gleich wichtig ist. Was bei ›3636‹ aber anders ist als in anderen Graffiticrews, ist die Kollegialität, die wir hier haben.« Die Jungs haben sich über das Malen kennengelernt und treffen sich oft deswegen. Aber sie passen auch im Alltag aufeinander auf und gehen zusammen auf Konzerte. »Ich war auch vorher schon in Gruppen, aber in keiner wie dieser«, meint Luche.
Die Stimmung ist gelöst, auf dem Weg zum nächsten Spot wird getaggt. Auf einmal gibt es Geschrei: »Ihr verdammten Jugendlichen! Habt ihr nichts Besseres zu tun? Verschwindet!« Eine ältere Frau hat Poser beim Sprühen erwischt und steht schimpfend am Fenster. Sie rennen weg um die nächste Straßenecke und ziehen weiter. Das Adrenalin spornt die Gruppe weiter an. Luche steigt auf die Schultern von PRK und Repudio und taggt ein kunstvolles »3636« in drei Metern Höhe an die Wand. Die bra- sileña, eine Methode, um mit der Dose höher zu kommen und zu taggen. Auf einmal bricht Panik aus: »Schnell weg! Schnell weg! Die pacos!« Eine Polizeistreife hat sie gesehen und angehalten. Wieder rennen sie, dieses Mal bis zu einem Park, in dem sie keine Überwachungskameras ausmachen, und verschnaufen dort. »Wenn wir weniger gewesen wären, wären sie uns wahrscheinlich hinterhergefahren und hätten uns festgenommen«, meint Repudio. Festgenommen werden will niemand. »Wenn sie dich erwischen, verprügeln sie dich erst, bringen dich dann in die Wache und verprügeln dich dort noch mal. Das sind Schweine«, »Eigentlich sind Schweine schön, die pacos aber ...«, meint Luche. Gelächter bricht aus.
»Für uns steht ›3636‹ für drei mal die sechs, also 666 und 36 Dinge, wie 36 Freundschaften, 36 tote Bullen, 36 Lieben, 36 Mal ein Hoch auf die, die kämpfen. Wir sind so was wie eine Protestcrew. Jeder von uns schreibt, was er denkt«, sagt Luche.
Modernes Graffiti, das Malen von Tags und Pieces, kam mit der HipHop-Kultur nach Chile. So war es auch Hip-Hop, der Luche zum Graffiti brachte. »Ich habe mein erstes Tag mit elf Jahren gemacht. Meiner großen Schwester gefiel Rap und alle Rapper, mit denen sie sich getroffen hat, hatten ein Alias. Das war vor 15 Jahren und seither konnte ich nicht mehr damit aufhören.« Auch ästhetisch sind die meisten Graffiti an die US-amerikanische Hip-Hop-Kultur angelehnt, bei »3636« ist das anders. »Als ich so jung war, habe ich auch Rap gehört, dann habe ich angefangen Punk zu hören und als Tätowierer zu arbeiten, das hat meinen Stil verändert«, sagt Luche. Was sie bei »3636« gemeinsam haben, ist, dass allen Punkmusik gefällt. »Unser Stil ist punkiger und wir machen mehr Protestbotschaften«, sagt Luch. Ob Graffiti in Chile politisch seien? »Hier haben die Leute angefangen, die Straßen zu bemalen, um Slogans gegen die Diktatur zu verbreiten. Es gab eine kommunistische Brigade, die Ramona Parra hieß und Murales gemacht hat. Während der Diktatur wurden einige von ihnen umgebracht oder ins Exil geschickt. Heute gibt es Leute, die politische Botschaften sprühen oder auch einfach nur ihren Graffitinamen, alles eine individuelle Entscheidung.«
Eine Mauer, vier auf zwei Meter, ist das nächste Ziel, dieses Mal in einer Seitenstraße, ohne viele Leute. Die Anspannung und Erschöpfung nach zwei Stunden durch die Stadt laufen und rennen ist den Jungs anzumerken. PRK fängt an, lauthals zu lachen. »Was macht ihr denn da? Da steht ›3366‹!« Den Jungs ist der Fauxpas egal, was daran liegt, dass allen klar ist, dass jedes Piece über kurz oder lang wieder auf die eine oder andere Art und Weise übermalt wird und keins der Bilder für die Ewigkeit ist.
Nach einer kurzen Pause wird weitergemalt, »3366« soll es sein. Als das Piece fast fertig ist, stürmt ein Mann mit einer Flasche in der Hand auf die Jungs zu. »Was macht ihr da? Könnt ihr nicht das Eigentum von anderen Leuten respektieren? Ihr verdammten Faulenzer!« »Beruhig dich, Mann! Ist das deine Wand? Wir machen die Stadt ein bisschen bunter, freu dich doch darüber! Das ist Kunst«, ruft es ihm entgegen. Der Mann ruft zurück: »Verschwindet von hier! Ich ruf die Polizei!« Und wieder rennen sie weg. Poser sprintet grinsend vorbei: »Das sind die Graffitimomente. Wenn du fast erwischt wirst und das Adrenalin voll da ist.«
Erschöpfung macht sich breit. Die Sprühdosen sind auch fast alle leer. Alle kramen in ihren Geldbeuteln ihre letzten Pesos zusammen. Der Park, in dem sie sitzen, ist voll von jungen Leuten, die trommeln, Bier trinken und kiffen, was der Polizei anscheinend nicht passt. Vier Streifenwagen rasen auf die größte Gruppe zu. Alle rennen panisch weg. Eine Straßenecke weiter wandern die leeren Sprühdosen in einen Mülleimer. Für »3636« ist der Abend vorbei und die Stadt ein bisschen bunter.
»Das sind die Graffitimomente. Wenn du fast erwischt wirst und das Adrenalin voll da ist.« Poser