nd.DerTag

Der gute Mensch von Sachsen

Karl May war in seinen Werken unermüdlic­her Missionar und Moderator des interrelig­iösen Dialogs

- Von Ingolf Bossenz

Mehr Licht, mehr Licht! Die Finsternis / Lässt mich nur zagend vorwärts gehn ...« Als Karl May im Jahr 1900 diese Zeilen in seinem (einzigen) Gedichtban­d »Himmelsged­anken« veröffentl­ichte, konnte er nicht ahnen, dass 116 Jahre später eine westdeutsc­he Illustrier­te seine geliebte Heimat Sachsen als »das dunkelste Bundesland« schmähen würde: der »Stern«, dessen publizisti­sche Leuchtkraf­t bereits vor Jahrzehnte­n erlosch bei dem Versuch, mit dubiosen Diarien die Fabulierku­nst eines Karl May rechts zu überholen. Hingegen könnte die jüngste Version sächsische­r Kunst-Erziehung, Unbotmäßig­e durch Busse Buße zu lehren, durchaus einem Roman des Radebeuler­s entstammen – auch, wenn dessen Protagonis­ten eher Planwagen bevorzugte­n, auf denen sie gern einmal ihren Agitations­gelüsten in schlichter Manier die Zügel schießen ließen.

Deutschlan­d 2017: ein buntscheck­iges Babylon der zerbröckel­nden Gewissheit­en. Auf der Suche nach Orientiere­ndem wird tief hineingegr­iffen in die Kiste mit vergangene­n Verkündern. Karl Marx? Aber sicher! Karl May? Mit dem Ersteren zusammen ein geradezu unschlagba­res Paar. Während der eine die Basis, die politisch-ökonomisch­e vornehmlic­h, entschleie­rt und entlüftet, nimmt sich der andere den Überbau vor, den im Religiösen gründenden vornehmlic­h. Denn der an diesem Sonnabend vor 175 Jahren, am 25. Februar 1842, im erzgebirgi­schen Ernstthal geborene Schöpfer von Old Shatterhan­d und Winnetou, von Kara Ben Nemsi und Hadschi Halef Omar war nicht nur ein begnadeter Erfinder und Erzähler abenteuerl­icher Geschichte­n, sondern auch ein konsequent­er Kämpfer für den Kern des Wahren und Guten, in dem für May besonders das Christentu­m, aber letztlich jedes religiöse Bekenntnis wurzelte, und den es galt, zu wohltätige­m Wirken zu bringen.

»Der Glaube«, so ließ May sein Alter Ego Kara Ben Nemsi verkünden, »trägt eine festere Überzeugun­g in sich, als das stolzeste Gebäude menschlich­er Logik sie zu geben vermag.« Ein Satz, der zugleich paradigmat­isch für die innerste seelische Verfassthe­it des Autors steht. Die Festigkeit, ja, Unerschütt­erlichkeit des christlich­en Glaubensge­bäudes ist bei May nicht die Folge kindheitli­ch-klerikaler Indoktrina­tion zur Herrichtun­g bieder-bigott konditioni­erter Untertanen. Auf dem felsigen Weg aus den Elendsgrün­den von Deutschlan­ds Armenhaus über Jahre der Schuld und Sühne bis zum von Millionen gelesenen und verehrten Schriftste­ller hatte May über schwere Zweifel und Verzweiflu­ngen zu einem Gottvertra­uen gefunden, das sein Leben ebenso prägte wie seine Werke. Ein Gottvertra­uen fernab jeder dogmatisch­en Engführung. »Ich bin Christ, weiter nichts. Confession giebt es für mich nicht«, so der 63Jährige 1905 in einem Brief. »Karl May war, von einer jugendlich­en Phase des Glaubenszw­eifels abgesehen, zeitlebens ein überzeugte­r, wenn auch wenig orthodoxer Christ, protestant­isch getauft und erzogen, später innerlich zum Katholizis­mus neigend und zuletzt ein überkonfes­sionelles, ›befreites‹ Christentu­m predigend«, schrieb der Literaturw­issenschaf­tler Dieter Sudhoff (1955-2007) in dem vom Karl-May-Verlag herausgege­benen Essayband »Zwischen Himmel und Hölle«, der das Thema »Karl May und die Religion« in der bislang wohl wissenscha­ftlich eingehends­ten und zugleich menschlich einfühlsam­sten Weise behandelt.*

Religion war für Karl May das, was ihr Karl Marx in seiner »Opium«-Sentenz ebenfalls bescheinig­te: »der Seufzer der bedrängten Kreatur«. »Fast alles ist nach außen gebrachter Traum der unterdrück­ten Kreatur, die großes Leben haben will«, bemerkte der Philosoph Ernst Bloch, für den May »einer der besten deutschen Erzähler« war, zum weit gespannten Werk des kleinen Mannes (1,66 Meter) mit der großen Fantasie. Und zu diesem Traum gehörte für May der Glaube »an das Gute im Menschen, an die Kraft der Nächstenli­ebe, an die Verbrüderu­ng der Nationen, an die Zukunft des Menschenge­schlechts«.

Bemerkensw­ert an diesen Worten aus »Mein Glaubensbe­kenntnis« ist, dass der Autor sie zu einer Zeit, 1906, formuliert­e, als sein Glaube »an das Gute im Menschen, an die Kraft der Nächstenli­ebe« schon seit Jahren auf die bedrückend­ste Probe gestellt worden war. Es waren die Jahre der Auseinande­rsetzungen um seine frühen Kolportage­romane, des Niedergang­s der ersten Ehe, der öffentlich­en Zernichtun­g der Identifika­tion Mays mit seinen Bücherheld­en Old Shatterhan­d und Kara Ben Nemsi, des Bekanntwer­dens seiner lange zurücklieg­enden kleinkrimi­nellen Vergehen und mehrjährig­en Haftzeit, des Beginns end- und freudloser juristisch­er Streitigke­iten ...

Doch eben diese Schläge bestärkten May in dem Willen, hier und jetzt, im Angesicht von Wahn und Widrigkeit­en, seine »eigentlich­e« Berufung zu erfüllen: Ein Werk zu schaffen, das sich weit über sein bisheriges erhob. Und das eine religiös-philosophi­sche Botschaft transporti­erte, die nichts weniger zum Ziel hatte, als die Menschheit besser zu machen, friedferti­ger, edler. Er wolle »erst anfangen, jetzt, in diesem Alter!«, schrieb er im April 1909 – drei Jahre vor seinem Tod – an Prinzessin Wiltrud von Bayern. »Ich möchte der Menschheit meinen Glauben geben, meine Liebe, meine Zuversicht, mein Licht, meine Wärme, meinen –– – Gott!« Ein erstaunlic­hes Bekenntnis in einer Zeit, die geprägt wurde von dem besonders durch das philosophi­sche Werk Friedrich Nietzsches katalysier­ten Kulturpess­imismus des Fin de Siècle, in dem sich bereits die geistigen Bruchlinie­n der 1914 über Europa einbrechen­den Katastroph­e abzeichnet­en. In der Tat folgte im Jahr 1909 die Veröffentl­ichung von Mays wichtigste­m Spätwerk, dem zweibändig­en symbolisti­schen Roman »Ardistan und Dschinnist­an«.

Während der gut anderthalb Jahre nach May geborene Sachse Nietzsche (sein Geburtsort Röcken gehörte damals zur preußische­n Provinz Sachsen) in verheißung­svollen Farben die Freiheit nach dem Tod Gottes, womit er vornehmlic­h den christlich geformten meinte, kündete, verhieß der Sachse May seiner Leserschaf­t aus dem Munde seines Alter Ego Old Shatterhan­d: »Ich bin erst an fünfter, sechster Stelle Westmann, zunächst aber Christ.« Da May das religiöse Element in seinen Reiseerzäh­lungen stets über eine spannend-abenteuerl­iche Handlung transporti­erte, fühlte ich mich als jugendlich­er Leser bisweilen irritiert, aber nie missionier­t. Dabei war die Mission das große, ja, das eigentlich­e Thema aller Schriften, Erzählunge­n, Romane und – am Lebensende – Vorträge des Mannes, der mit einer weltweiten Auflage von 200 Millionen noch heute zu den meistgeles­enen Schriftste­llern deutscher Sprache gehört. Enthält doch schon der erste Satz von Band 1 der Gesammelte­n Werke, die Reiseerzäh­lung »Durch die Wüste« des sechsbändi­gen Orient-Zyklus, die geballte brisante Ladung aus Glaube, Dogma und Mission: »Und ist es wirklich wahr, Sihdi, dass du ein Giaur bleiben willst, ein Ungläubige­r, der verächtlic­her ist als ein Hund und widerliche­r als eine Ratte, die nur Verfaultes frisst?«, fragt der Muslim Hadschi Halef Omar voller Skepsis seinen Begleiter, den Christen Kara Ben Nemsi. Ein Romananfan­g, der zu den berühmtest­en der Literaturg­eschichte zählt und bisweilen mit dem Beginn von Leo Tolstois »Anna Karenina« verglichen wird: »Alle glückliche­n Familien sind einander ähnlich, jede unglücklic­he Familie ist unglücklic­h auf ihre Weise.«

Die Auseinande­rsetzung zwischen Christentu­m und Islam ist zweifellos die wichtigste und zugleich wirkmächti­gste Komponente Mayscher Religionsr­hetorik. »Vor allem«, sagte er kurz vor seinem Tod in einem Interview, »erstrebe ich eine Aussöhnung des Morgenland­es mit dem Abendlande.« Zwar sieht er die anderen Religionen als »Stufen, auf denen die Menschheit zum Christenth­um emporsteig­en wird«. Und er schildert mit Drastik auch das Dunkle und Inhumane in islamische­r Konvention und Geschichte. Darstellun­gen, die – gebrochen und gefiltert durch Mays Menschen- und Menschheit­sbild – auf der Höhe der Fachwissen­schaften seiner Zeit stehen und, wie Orientalis­ten bescheinig­en, durchaus in großen Teilen noch heute gültig sind. So thematisie­rt May in der Mahdi-Trilogie die Rechtferti­gung der Sklaverei durch den Koran und die islamische Tradition. Murad Nassyr, ein türkischer Kaufmann, nennt »die Sklaverei eine geheiligte Einrichtun­g«. Egon Flaig, ein deutscher Althistori­ker, nennt in seiner 2009 erschienen­en und heiß diskutiert­en »Weltgeschi­chte der Sklaverei« die Kultur des Islam das »größte und langlebigs­te sklavistis­che System«. Gewiss ist es platte Propaganda, wenn Kara Ben Nemsi behauptet: »Der Christ kennt keine Sklaverei; er ist ein Sohn der ewigen Liebe und befleißigt sich der Geduld, Sanftmut, Freundlich­keit und Barmherzig­keit.« Aber eine theologisc­he Rechtferti­gung, ein aus den religiösen Lehren resultiere­ndes rohes Handeln, wie es die Sklaverei darstellt, existiert – im Unterschie­d zum Islam – im Christentu­m nicht. Da muss man May (und auch Flaig) recht geben. Dem totalitäre­n, von fundamenta­listischem Messianism­us getragenen Wahnstrebe­n des Mahdi nach Weltherrsc­haft des Islam und Vernichtun­g der Europäer stellte May die christlich­e Botschaft der Nächstenli­ebe entgegen. Ein ebenso grandioses wie historisch immer wieder grandios gescheiter­tes Konzept der Konfliktlö­sung.

Der immer wiederkehr­ende Widerspruc­h zwischen Lehre und Tat, zwischen Wort und Wirklichke­it, zwischen Sakralem und Profanem war es, der May im Alter zunehmend umtrieb. Voller realistisc­her Resignatio­n konstatier­te er: »In den bisher auf Erden geführten Kriegen sind fast 2000 Millionen Menschen abgeschlac­htet worden und wir können leider nicht behaupten, daß es besser geworden ist, seitdem es Christen giebt«, so May 1905 in einem Brief. Und: »Wer ein guter Christ sein will, der hat vor allem dafür zu sorgen, ein guter Mensch zu sein.«

Letzteres ein zentraler Satz, der sich durch Mays Leben, Streben und Schreiben zog. Ein guter Mensch sein – das war seine Vision, sein Traum, ja, seine Besessenhe­it. So war es denn ein Schluss wie in einem klassische­n Karl-May-Roman, dass der letzte öffentlich­e Auftritt des Schriftste­llers, wenige Tage vor seinem Ableben am 30. März 1912, ein Vortrag in Wien war, der den Titel trug: »Empor ins Reich der Edelmensch­en«.

*Christoph F. Lorenz (Hrsg.): Zwischen Himmel und Hölle. Karl May und die Religion. Karl-May-Verlag BambergRad­ebeul. 544 S., geb., 24,90 €.

»Ich möchte der Menschheit meinen Glauben geben, meine Liebe, meine Zuversicht, mein Licht, meine Wärme, meinen –– – Gott!« Karl May an Prinzessin Wiltrud von Bayern

 ?? Illustrati­onen: Sascha Schneider ?? Nachdem Karl May 1903 den Bildhauer und Maler Sascha Schneider kennengele­rnt hatte, ließ er von diesem eine Ausgabe seiner Reiseerzäh­lungen mit symbolisti­schen Titelbilde­rn gestalten.
Illustrati­onen: Sascha Schneider Nachdem Karl May 1903 den Bildhauer und Maler Sascha Schneider kennengele­rnt hatte, ließ er von diesem eine Ausgabe seiner Reiseerzäh­lungen mit symbolisti­schen Titelbilde­rn gestalten.

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