Mehr Spektakel, mehr Event!
Multiplexkinos haben sich zu Unterhaltungspalästen mit einfallsreichem Rahmenprogramm entwickelt, das oft Geschlechterklischees bedient.
Irgendwo zwischen klobiger und majestätischer Ästhetik ist es meist angesiedelt, und immer häufiger ragt es an zentralen Orten deutscher Klein- und Großstädte aus der Masse umliegender Gebäude heraus: Das Multiplexkino bleibt trotz Smart-TV, Serienboom und Gaming Technologie ein Anlaufpunkt für eine breite Masse. Mit ihrem gradlinigen Design aus Stahl und Glasfassade erstrahlen die cineastischen Paläste in vielen Stadtbildern selbstbewusst und markant. Dabei erinnern sie äußerlich nicht zufällig an die architektonischen Vorlieben der Mächtigen. Die Glückstempel tragen stets die kapitalistischen Verheißungen des Konsums in sich und erinnern an das bedingungslose Fest, das das Leben sein will; eng getaktet zwischen Personalgespräch, Überstunden und Wäsche waschen. Mit dem Eintritt in die Kinowelt ist die Realität für ein paar Stunden nach draußen verbannt. Brav angeleint, dennoch nie ganz außer Sichtweite – wie ein treuer Schoßhund, der einem schwanzwedelnd und mit Kulleraugen durch die Glasfassade blinzelnd bedeutet: Komm bloß schnell wieder!
Einmal eingetaucht in die Welt der Actionhelden und Sagas, lockt das duftende Popcorn an die Theken und animiert zum Kauf riesiger Eimer der gepoppten Maiskörner, gedippten Nachos und Softgetränke. Pappaufsteller der aktuellen Helden begrüßen einen in jeder Ecke, selbst bis in die Toilettenräume ist die Märchenwelt musikalisch untermalt. Der Zuschauer schwebt dann mit teppichbodengedämpften Schritten in einen der vielen großen Kinosäle und lässt sich vor der gigantischen Leinwand in den gepolsterten Sessel sinken, um nach einer halben Stunde bunter Werbeclips den gewünschten Film zu sehen. Damit ist klar: Es geht beim Kinobesuch in den schillernden Cineplextempeln nicht im puristischen Sinne darum, diesen oder jenen Film zu sehen – er ist schlicht Anlass und Höhepunkt eines komponierten Kinogefühls. Die pompösen Unterhaltungspaläste dienen dabei nicht als bloße Kulisse des Produkts »Film«, sondern sind ein elementarer Bestandteil des cineastischen Events. Die Innenarchitektur verlängert und erweitert den im Film erlebten Grenzübertritt zwischen Traum und Wirklichkeit und öffnet die Pforte in diese sakrale, verborgene Welt der Helden, Hobbits und Henker.
In technischer Hinsicht erhält das Kino allerdings angesichts des Aufkommens der »Heimkinos« mit immer größerer und besser werdenden LED-Bildschirmen, Beamern und Soundanlagen harte Konkurrenz. Zudem sind viele Filme bereits kurz nach dem offiziellen Kinostart bei Streamingdiensten online verfügbar. Noch nicht einmal die Wohnung muss man verlassen, geschweige denn den Geldbeutel zücken, und schon flimmert in Sekundenschnelle der neue James-Bond-Film im eigenen Wohnzimmer über die Leinwand. Noch schnell die Tiefkühlpizza aus dem Backofen und ab aufs Sofa, es gilt schließlich das Rätsel um den Todesstern bei »Star Wars« zu knacken!
Zugegeben, angesichts dieser rasanten technischen Entwicklungen steht das Kino vor großen Herausforderungen. Selbst die aufwendig produzierten 3D-Kinofilme können mittlerweile mit entsprechender TVAusrüstung in der eigenen Stube genossen werden. Immer dem neuesten Stand der Technik hinterher zu hecheln, scheint daher langfristig als defizitäre Strategie im Kampf um die Alleinherrschaft über die großen Effekte. Und was läge da aus Sicht der Lichtspielhausbetreiber näher, als das Kino genau dahingehend aufzuwerten, wo kein Heimentertainment mithalten kann, nämlich beim gemeinsamen Kinoerlebnis? Dieser Griff in die Trickkiste entspricht damit zugleich dem Zeitgeist: mehr Spektakel, mehr Event!
Dieser Trend begnügt sich nicht nur mit den Übertragungen imposanter Ballett-, Opern- oder Theaterinszenierungen aus den Weltmetropolen. In der Eventlocation Kino ist alles denkbar geworden: Angefangen beim extravaganten À-la-carte-Luxusdinner im Londoner Odeon bis hin zur geschäftigen Firmenmesse mit Catering im Kinofoyer und Powerpoint im Vorführsaal. Durch den sakralen Raum der Weltflucht, der den Kinofilm seit jeher fest umschließt, weht nun immer stärker der außerfilmische Wind des Marktes.
Eine besonders beliebte Strategie bedient sich der traditionellen Geschlechterrollen. Wer im Programm eines beliebigen Multiplex stöbert, dem wird die Werbung für einige dieser Events schon ins Auge gesprungen sein. So locken Vorstellungen »nur für Frauen« mit einem Glas Sekt und einer Ausgabe des neusten Beautymagazins. Das Klischee der Frauenclique à la »Sex and the City« wird hier auf den Plan gerufen: Die monatliche Lästerrunde zwischen Sextipps und Kosmetikberatung (typisch Frauen!) verlegt ihr monatliches Zusammentreffen mal ins Kino nebenan und schmilzt bei »Bridget Jones’ Baby« förmlich dahin. Ein Warnhinweis auf der Homepage eines anderen Hauses für die anstehende Vorstellung zum Frauenkino erinnert eher an das Schild in einer Sauna: »Damenabend!!! Männer haben keinen Zutritt!!!« Die soziale Gepflogenheit des geselligen Frauenabends wird auf diese Weise geschickt in eine kommerziell nutzbare Ressource umgewandelt und in einer Dienstleistung verwertbar gemacht. Zusätzlich steigern Kooperationen mit Bier- und Sektmarken sowie geschlechtsspezifisch ausgewählten Zeitschriften für die Events den Profit. Das Frauenkino ermöglicht den »festen Kino-Ter- min für Freundinnen«, wo es Filme »in schönster Party-Atmosphäre« zu sehen gibt, so wie es sich die Ladys eben angeblich wünschen.
Im Kinosaal nebenan dürfen sich derweil Männergruppen auf »geballte Action, atemberaubende Thriller und gewagte Stunts« freuen und dabei zwei Bier zum Preis von einem zischen oder auch mal vor dem Film mit den Kumpels in der neusten Playboyausgabe blättern. Selbstverständlich denkt die Marketingabteilung auch an eine Bühne für die heteronormative Pärchenperformance. Alle Paare, die sich zum Valentinstag den Film »Fifty Shades of Grey – Gefährliche Liebe« ansahen, erhielten eine Überraschungstüte (solange der Vorrat reichte!). Welche Werbegeschenke für sie und ihn da wohl versteckt sein mochten, kann man sich schon fast denken.
Wie bei anderen Produktpaletten schon längst üblich, macht die geschlechtstypische Vermarktung nun auch vor dem Kino nicht mehr Halt. Es war zwar schon immer die Rede von seichten Romanzen und herzzerreißenden Liebesdramen als »Frauenfilmen«, während die sogenannten Männerfilme nur so von waghalsiger Action und knallharten Gewaltszenen strotzen. Die vom Klang der klirrenden Sektgläser begleitete Inszenierung dieser vermeintlichen Geschmacksunterschiede als wöchentliches Wohlfühlevent im Kino ist in dieser Form jedoch neu.
Diese Spektakel stärken konservative Rollenbilder, denn sie verweisen auf die antiquierte Vorstellung einer natürlich gegebenen Differenz von Charakterzügen für Männer (rational, entscheidungsstark, intelligent) und Frauen (emotional, schwach, sozial). Im Kino »für echte Kerle« kann es daher schon mal etwas rauer zugehen, während die zartbesaiteten Ladys per Kinoticket in die »Filme voller Emotionen« gelotst werden. Da gehen Pärchen dann auch häufig mit befreundeten Pärchen ins Kino. Nach der allgemeinen Begrüßung trennen sich dann die Geschlechter – die Männer genießen einen Action- oder Horrorfilm, während die Frauen gemeinsam in einem Liebesfilm schmachten. In dieser Anschauung agieren Männer und Frauen auf quasi-natürliche Weise in miteinander unvereinbaren Interessensphären. Schaut sich ein Mann aus Lust und Laune eine rührselige Schmonzette an, so muss er implizit um den Ruf seiner intakten Männlichkeit bangen. Wenn eine Frau ohne ständiges Angstquietschen zu Horrorfilmen neigt, attestiert ihr mit Sicherheit niemand ein »Triple A« beim Rating der besten Weiblichkeitsperformance.
Diese Lifestyleperformances des Frau- oder Mannseins im kulturellen Raum gehen dabei Hand in Hand mit der neoliberalen Denke des Mottos »Yolo« (You only live once, zu Deutsch: Du lebst nur einmal) der jüngeren Generationen. Dabei kommt es darauf an, sowohl im beruflichen Werdegang als auch im Privaten seine Ressourcen perfekt einzusetzen, um das beste Ergebnis herauszuholen. So wird mitunter auch die Freizeitgestaltung zum optimierbaren Raum der stetigen Selbstvergewisserung ob der eigenen Makellosigkeit. Aus dem einst gemütlichen Abend im Lichtspielhaus um die Ecke wird das verordnete Partyspektakel bei der »Ladies Night« im Kino. Das beschauliche Abendessen im Restaurant avanciert zum Raum der Selbstdarstellung beim exklusiven Dinner vor der Leinwand. Es gilt zu beweisen: Seht alle her, wie zügellos wir feiern und das Leben in vollen Zügen genießen! Der Subtext dieser Botschaft aber schwingt überdeutlich als Konformismus mit. Das ist deshalb legitim, weil wir uns selbstverständlich in stetiger Antizipation immer an die sozialen Regeln halten und morgen wieder strebsam unserer Arbeit nachgehen. Prosit, Mädels!
Es geht beim Kinobesuch in den schillernden Cineplextempeln nicht im puristischen Sinne darum, diesen oder jenen Film zu sehen – er ist schlicht Anlass und Höhepunkt eines komponierten Kinogefühls. Am Sonntag werden in Los Angeles die Oscars verliehen und Filme in 24 Kategorien ausgezeichnet. In den Kinos werden Filme jedoch mehr und mehr zu einem Begleitprogramm großer Wohlfühl-Events, analysieren unsere Autoren.