Sei kein Arschloch
Der britische Journalist Jack Urwin untersucht in seinem Buch »Boys don’t cry« destruktive Männlichkeitsvorstellungen
Das Patriarchat bröckelt langsam vor sich hin, und auch das Jobangebot lässt zu wünschen übrig. Viele Männer in der westlichen Welt scheinen sich deswegen in einem Zustand der Verwirrung zu befinden. Die alten Rezepte von Vater und Großvater funktionieren nicht mehr. In der Folge suchen sie – wenn sie auf die Verteidigung ihrer Privilegien durch Gewalt verzichten – nach neuen Vorbildern für ein modernes »maskulines« Verhalten. Dass die Ansprüche dabei widersprüchlich sein können, zeigt nicht nur die »Welt«-Autorin Hannah Lühmann, die gerne wieder »mehr linke Männer mit Eiern« hätte. Die Geschlechterforschung, die die starre Unterscheidung der Kategorien »Mann« und »Frau« grundsätzlich in Frage stellt, hat dann noch mal alles komplizierter gemacht.
Seminare von selbsternannten »Männercoaches« sowie unzählige sogenannte Lifestylezeitschriften versuchen, für diese fragile Identität kapitalismuskompatible Angebote zu schaffen. Die zur Wahl stehenden Männerbilder können dabei schnell ins Reaktionäre kippen. Ob »Männerrechtler« in der AfD oder selbsternannte »Verführungskünstler« – der organisierte Antifeminismus gewinnt nicht nur im Internet an Fahrt. Der britische Autor Jack Urwin hat in dieser Gemengelage nun das Buch »Boys don’t cry« geschrieben. Er untersucht darin, wo der Mythos der Maskulinität herkommt und warum dieser gefährlich und gar tödlich sein kann.
Bei einer überfüllten Diskussionsveranstaltung im Berliner nd-Gebäude macht Urwin dieser Tage gleich eingangs deutlich, dass er eigentlich nichts Besonderes geschrieben habe. »Nichts daran ist neu oder bahnbrechend. Es wurde hauptsächlich publiziert, weil ich ein Mann bin«, erklärt er, um Kritikern sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der 24-Jährige gibt ohne zu zögern zu, dass feministische Autorinnen schon lange auf die problematischen Konzepte von Männlichkeit hingewiesen und auch das theoretische Rüstzeug für die Ausarbeitung seiner Thesen geliefert haben. Er sei nur ein weißer, heterosexueller Typ, der ein Buch für andere Typen geschrieben habe, die sich mit dem Thema bislang kaum beschäftigt hätten. Ein »Bro« versucht, andere »Bros« aufzuklären, sozusagen.
Angefangen hat für Urwin alles mit dem Artikel »A Stiff Upper Lip Is Killing British Men«, den er 2014 für das Magazin »Vice« schrieb. Darin berichtete er von den belastenden Erfahrungen mit seinem Vater, der frühzeitig an einem Herzinfarkt gestorben war. Bei der Autopsie fand man heraus, dass der alte Herr bereits in den Jahren zuvor starke gesundheitliche Probleme hatte. Doch weder Familie noch Ärzte wussten etwas davon. Urwin sah im Verhalten seines Vaters ein generelles Problem. In Recherchen zeigte er auf, dass britische Männer aufgrund ungesunder Vorstellungen von »Stärke« nur halb so oft zum Arzt gehen wie Frauen, die Suizidrate aber dreimal höher sei. Der Erfolg des Artikels, speziell bei männlichen Freunden, überraschte den Journalisten und PR-Berater. Urwin beschloss, die angerissenen Themen noch einmal ausführlicher zu besprechen.
In dem daraus entstandenen Buch geht er, teils in Essayform, teils in Erfahrungsberichten, auf weitere Aspekte von »toxischer« Männlichkeit ein. Zu Beginn reitet er jedoch in hoher Geschwindigkeit durch die Grundlagen feministischer Theorie. Dass es dabei auf 226 Seiten etwas holzschnittartig zugeht, liegt auf der Hand. Urwins Argument etwa, dass zwar in der Steinzeit mit ihren männlichen Jägern und weiblichen Sammlern bestimmte Geschlechterrollen noch Sinn ergeben hätten, heute aber aufgrund des technischen Fortschritts irrelevant seien, stieß denn auch auf Kritik. Aktuelle Forschung zeige schließlich auf, dass niemand genau sagen könne, wer damals den Speer wirklich getragen hat – und diese Vorstellung der Vergangenheit selbst von Projektion getragen sei.
Urwin geht später auf aktuellere Phänomene wie unrealistische Körperbilder ein, die auf Jungs und Männer einen immer größeren destruktiven Einfluss ausüben. Aber auch die Gefahr von sich hochputschenden Gruppendynamiken wird thematisiert: »Sobald sie in Horden auftreten, herrscht unter Männern eine Mobmentalität, die sich durch Exzesse auf allen Ebenen auszeichnet.« Auch der fatale Zusammenhang von Sexualität und Vergewaltigungskultur wird beleuchtet: »Mädchen mögen Sex wollen, doch Jungen wird eingeredet, sie brauchten ihn. Und das ist in der Tat sehr gefährlich.«
Die Suche nach Lösungen ist natürlich kniffliger. In seinem Buch fordert Urwin von Männern die Bereitschaft zur Kommunikation und zum Reflektieren des eigenen Verhaltens. Grundsätzlich plädiert er dafür, den Begriff »Männlichkeit« kurzfristig mit emanzipatorischen Inhalten zu besetzen – auch wenn er selbst langfristig das binär-geschlechtliche System überwinden will. Eine riskante Strategie, die auf der Lesung in Berlin von einigen Feministinnen kritisiert wird.
Urwin, durchweg Pragmatiker, schlägt dort dann konkret vor, dass Männer ihre Privilegien – worunter er auch ihre physische Stärke zählt – sinnvoll einsetzen sollten. Anstatt den ganzen Tag mit ihrer Lohnarbeit zu verbringen, sollten Männer mehr Zeit in die Familie investieren. Anstatt sich betrunken in der Kneipe zu prügeln, könnten »echte Kerle« übergriffige Männer in der U-Bahn zurechtweisen, die Frauen belästigen. Beispiele, die aus feministischer Sicht nicht immer ganz rund sind, aber zumindest zeigen, dass er sein Bestes versucht.
Der aus Loughborough stammende Urwin gibt sich im gesamten Buch große Mühe, verständlich und, durch in Klammern gesetzte ironische Bemerkungen, auch witzig zu bleiben. Persönliche Anekdoten oder Erzählungen von Bekannten ersetzen akademische Fachsprache. Auf Fußnoten wird weitestgehend verzichtet, die Konsumierbarkeit des Textes steht im Vordergrund. Wenn er im typischen »Vice«-Stil ein diffuses »Wir« vereinnahmt und ein diffuses »Ihr« adressiert, ist nicht immer ganz klar, von wem er gerade spricht, aber seine lockere Art scheint der Zielgruppe zu gefallen.
Die Bedeutung des Buches liegt in seiner explizit männlichen Perspektive, in einfacher Sprache soll über destruktive Männlichkeit aufgeklärt werden. »Die Unterkomplexität ist seine Stärke«, formuliert etwa die stellvertretende Taz-Chefredakteurin Katrin Gottschalk auf der Lesung in Berlin. Nun gibt es also endlich ein Buch, das man dem alten Schulfreund schenken kann, den man nur zu Weihnachten sieht, dem man aber sonst eher aus dem Weg zu gehen versucht. Jack Urwin mag ihn eher erreichen, als es einer Frau mit denselben Inhalten gelänge. Und wenn dann doch noch Zweifel bleiben, erklärt Urwin, ganz langsam und behutsam: »Weder werden uns unsere Schwänze abfallen, noch wird Fußball aufhören zu existieren.«
»Weder werden uns unsere Schwänze abfallen, noch wird Fußball aufhören zu existieren.«