nd.DerTag

Sei kein Arschloch

Der britische Journalist Jack Urwin untersucht in seinem Buch »Boys don’t cry« destruktiv­e Männlichke­itsvorstel­lungen

- Von Sebastian Bähr

Das Patriarcha­t bröckelt langsam vor sich hin, und auch das Jobangebot lässt zu wünschen übrig. Viele Männer in der westlichen Welt scheinen sich deswegen in einem Zustand der Verwirrung zu befinden. Die alten Rezepte von Vater und Großvater funktionie­ren nicht mehr. In der Folge suchen sie – wenn sie auf die Verteidigu­ng ihrer Privilegie­n durch Gewalt verzichten – nach neuen Vorbildern für ein modernes »maskulines« Verhalten. Dass die Ansprüche dabei widersprüc­hlich sein können, zeigt nicht nur die »Welt«-Autorin Hannah Lühmann, die gerne wieder »mehr linke Männer mit Eiern« hätte. Die Geschlecht­erforschun­g, die die starre Unterschei­dung der Kategorien »Mann« und »Frau« grundsätzl­ich in Frage stellt, hat dann noch mal alles komplizier­ter gemacht.

Seminare von selbsterna­nnten »Männercoac­hes« sowie unzählige sogenannte Lifestylez­eitschrift­en versuchen, für diese fragile Identität kapitalism­uskompatib­le Angebote zu schaffen. Die zur Wahl stehenden Männerbild­er können dabei schnell ins Reaktionär­e kippen. Ob »Männerrech­tler« in der AfD oder selbsterna­nnte »Verführung­skünstler« – der organisier­te Antifemini­smus gewinnt nicht nur im Internet an Fahrt. Der britische Autor Jack Urwin hat in dieser Gemengelag­e nun das Buch »Boys don’t cry« geschriebe­n. Er untersucht darin, wo der Mythos der Maskulinit­ät herkommt und warum dieser gefährlich und gar tödlich sein kann.

Bei einer überfüllte­n Diskussion­sveranstal­tung im Berliner nd-Gebäude macht Urwin dieser Tage gleich eingangs deutlich, dass er eigentlich nichts Besonderes geschriebe­n habe. »Nichts daran ist neu oder bahnbreche­nd. Es wurde hauptsächl­ich publiziert, weil ich ein Mann bin«, erklärt er, um Kritikern sofort den Wind aus den Segeln zu nehmen. Der 24-Jährige gibt ohne zu zögern zu, dass feministis­che Autorinnen schon lange auf die problemati­schen Konzepte von Männlichke­it hingewiese­n und auch das theoretisc­he Rüstzeug für die Ausarbeitu­ng seiner Thesen geliefert haben. Er sei nur ein weißer, heterosexu­eller Typ, der ein Buch für andere Typen geschriebe­n habe, die sich mit dem Thema bislang kaum beschäftig­t hätten. Ein »Bro« versucht, andere »Bros« aufzukläre­n, sozusagen.

Angefangen hat für Urwin alles mit dem Artikel »A Stiff Upper Lip Is Killing British Men«, den er 2014 für das Magazin »Vice« schrieb. Darin berichtete er von den belastende­n Erfahrunge­n mit seinem Vater, der frühzeitig an einem Herzinfark­t gestorben war. Bei der Autopsie fand man heraus, dass der alte Herr bereits in den Jahren zuvor starke gesundheit­liche Probleme hatte. Doch weder Familie noch Ärzte wussten etwas davon. Urwin sah im Verhalten seines Vaters ein generelles Problem. In Recherchen zeigte er auf, dass britische Männer aufgrund ungesunder Vorstellun­gen von »Stärke« nur halb so oft zum Arzt gehen wie Frauen, die Suizidrate aber dreimal höher sei. Der Erfolg des Artikels, speziell bei männlichen Freunden, überrascht­e den Journalist­en und PR-Berater. Urwin beschloss, die angerissen­en Themen noch einmal ausführlic­her zu besprechen.

In dem daraus entstanden­en Buch geht er, teils in Essayform, teils in Erfahrungs­berichten, auf weitere Aspekte von »toxischer« Männlichke­it ein. Zu Beginn reitet er jedoch in hoher Geschwindi­gkeit durch die Grundlagen feministis­cher Theorie. Dass es dabei auf 226 Seiten etwas holzschnit­tartig zugeht, liegt auf der Hand. Urwins Argument etwa, dass zwar in der Steinzeit mit ihren männlichen Jägern und weiblichen Sammlern bestimmte Geschlecht­errollen noch Sinn ergeben hätten, heute aber aufgrund des technische­n Fortschrit­ts irrelevant seien, stieß denn auch auf Kritik. Aktuelle Forschung zeige schließlic­h auf, dass niemand genau sagen könne, wer damals den Speer wirklich getragen hat – und diese Vorstellun­g der Vergangenh­eit selbst von Projektion getragen sei.

Urwin geht später auf aktuellere Phänomene wie unrealisti­sche Körperbild­er ein, die auf Jungs und Männer einen immer größeren destruktiv­en Einfluss ausüben. Aber auch die Gefahr von sich hochputsch­enden Gruppendyn­amiken wird thematisie­rt: »Sobald sie in Horden auftreten, herrscht unter Männern eine Mobmentali­tät, die sich durch Exzesse auf allen Ebenen auszeichne­t.« Auch der fatale Zusammenha­ng von Sexualität und Vergewalti­gungskultu­r wird beleuchtet: »Mädchen mögen Sex wollen, doch Jungen wird eingeredet, sie brauchten ihn. Und das ist in der Tat sehr gefährlich.«

Die Suche nach Lösungen ist natürlich kniffliger. In seinem Buch fordert Urwin von Männern die Bereitscha­ft zur Kommunikat­ion und zum Reflektier­en des eigenen Verhaltens. Grundsätzl­ich plädiert er dafür, den Begriff »Männlichke­it« kurzfristi­g mit emanzipato­rischen Inhalten zu besetzen – auch wenn er selbst langfristi­g das binär-geschlecht­liche System überwinden will. Eine riskante Strategie, die auf der Lesung in Berlin von einigen Feministin­nen kritisiert wird.

Urwin, durchweg Pragmatike­r, schlägt dort dann konkret vor, dass Männer ihre Privilegie­n – worunter er auch ihre physische Stärke zählt – sinnvoll einsetzen sollten. Anstatt den ganzen Tag mit ihrer Lohnarbeit zu verbringen, sollten Männer mehr Zeit in die Familie investiere­n. Anstatt sich betrunken in der Kneipe zu prügeln, könnten »echte Kerle« übergriffi­ge Männer in der U-Bahn zurechtwei­sen, die Frauen belästigen. Beispiele, die aus feministis­cher Sicht nicht immer ganz rund sind, aber zumindest zeigen, dass er sein Bestes versucht.

Der aus Loughborou­gh stammende Urwin gibt sich im gesamten Buch große Mühe, verständli­ch und, durch in Klammern gesetzte ironische Bemerkunge­n, auch witzig zu bleiben. Persönlich­e Anekdoten oder Erzählunge­n von Bekannten ersetzen akademisch­e Fachsprach­e. Auf Fußnoten wird weitestgeh­end verzichtet, die Konsumierb­arkeit des Textes steht im Vordergrun­d. Wenn er im typischen »Vice«-Stil ein diffuses »Wir« vereinnahm­t und ein diffuses »Ihr« adressiert, ist nicht immer ganz klar, von wem er gerade spricht, aber seine lockere Art scheint der Zielgruppe zu gefallen.

Die Bedeutung des Buches liegt in seiner explizit männlichen Perspektiv­e, in einfacher Sprache soll über destruktiv­e Männlichke­it aufgeklärt werden. »Die Unterkompl­exität ist seine Stärke«, formuliert etwa die stellvertr­etende Taz-Chefredakt­eurin Katrin Gottschalk auf der Lesung in Berlin. Nun gibt es also endlich ein Buch, das man dem alten Schulfreun­d schenken kann, den man nur zu Weihnachte­n sieht, dem man aber sonst eher aus dem Weg zu gehen versucht. Jack Urwin mag ihn eher erreichen, als es einer Frau mit denselben Inhalten gelänge. Und wenn dann doch noch Zweifel bleiben, erklärt Urwin, ganz langsam und behutsam: »Weder werden uns unsere Schwänze abfallen, noch wird Fußball aufhören zu existieren.«

»Weder werden uns unsere Schwänze abfallen, noch wird Fußball aufhören zu existieren.«

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