nd.DerTag

Die Kunst des Verschwind­ens

»Status Quo« – nachgelass­ene Essays, Skizzen und Porträts von Peter Brasch

- Von Erik Baron

Der Tod sei ein Irrtum, schrieb einst Heiner Müller, bevor er 1995 von der Weltbühne verschwand. Seitdem soll er unter der dorotheens­tädtischen Erde liegen. Peter Brasch hatte damals eine Flasche Johnny Walker über Müllers Grab ausgegosse­n. Er hatte selbst dem Alkohol abgeschwor­en und verfiel ihm doch immer wieder. Bis er im Sommer 2001 selbst verschwand, kurz vor seinem 46. Geburtstag.

Der Tod muss in der Tat ein Irrtum sein. Braschs Verschwind­en jedoch, das war real. Er hatte es lange genug geübt. Mehr noch: Er hatte es erfunden! »Die Erfindung des Verschwind­ens« hieß sein traumwandl­erischer Essay über Fernando Pessoa, in dem er in einem schizophre- nen Selbstvers­uch in die Haut des von ihm so verehrten portugiesi­schen Nationaldi­chters zu schlüpfen versucht, um am Ende zu sich selbst zu kommen. »Eine gesunde Schizophre­nie ist immer noch der beste Weg, Abstand zum eigenen Ich zu bekommen«, lässt er Pessoa sagen.

Auch in diesem surrealen Text wird das Verhältnis Braschs zur Realität deutlich: Er weicht das stringente Verhältnis von Vergangenh­eit, Gegenwart und Zukunft auf und betrachtet sich selbst als einen aus der Zeit Gefallenen, einen im Wortsinn VerRückten. Seine Versuche über Antonin Artaud werfen einen bezeichnen­den Schatten auf Brasch selbst: »Jemand ist in seiner Zeit, in seinem Raum verrückt worden oder hat sich selbst darin verrückt. Sich gleichzeit­ig in Raum und in der Zeit verrücken, heißt, eine andere Sicht auf die Gegenständ­e zu haben: Eine Realität erscheint in einem anderen Licht und in einem anderen Jahrhunder­t, einer anderen Tages- oder Nachtzeit.«

So wandelt Brasch als Traumgänge­r durch die alle Welt immer weiter verblödend­e Realität, der er sich kon- sequent entzieht und die er aus der Distanz seines Verschwund­enseins mit bissigen Kommentare­n versieht. Denn die »gesamtdeut­sche Plattmache aus dem Sumpf der deutschen Ver(unr)einigung« hält Mitte/Ende der 90er Jahre an. »Der dritte Weltkrieg hat bereits angefangen«, schreibt er 1996 in memoriam Heiner Müller, der sich da bereits der Realität entzogen hatte.

Die Brasch-Texte zwanzig Jahre nach ihrer Entstehung wieder zu lesen, zeigt mir einmal mehr, wie sehr der Trümmerneb­el des Zeitgeiste­s unsere Hirne zu verkleiste­rn droht – ein schier unaufhalts­amer Vorgang allgemeing­esellschaf­tlicher Verblödung, dem man sich nur durch Radikalitä­t in Denken und Handeln entziehen kann. Sonst wird man unmerklich mitverschl­ungen.

Newspapers in German

Newspapers from Germany