Volle Deckung!
Unter den bekannten Bedrohungen, die im All auf den Menschen lauern, zählt die kosmische Strahlung zu den unheimlichsten.
Je weiter sich Menschen von der Erde entfernen und dabei den Schutz der Atmosphäre und des irdischen Magnetfelds verlassen, desto mehr sind sie einem permanenten Bombardement ausgesetzt. Überwiegend handelt es sich dabei um Protonen, den Kernen des Wasserstoffs, die sich nahezu mit Lichtgeschwindigkeit und Energien bis zu mehreren hundert Millionen Elektronenvolt (MeV) durchs All bewegen. Es sind aber auch zwölf Prozent Heliumkerne (Alpha-Teilchen) und ein Prozent schwerere Atomkerne bis hin zum Eisen darunter. Die positiv geladenen Teilchen kommen aus dem interstellaren Raum oder von der Sonne und können trotz ihrer Winzigkeit großen Schaden anrichten. Denn wie elektromagnetische Röntgen-, Gamma- oder auch kurzwellige Ultraviolettstrahlung haben sie genug Energie, um aus Atomen und Molekülen Elektronen zu entfernen. Wissenschaftler sprechen daher von »ionisierender Strahlung«.
Wenn diese kosmische Partikelstrahlung in menschliches Körpergewebe eindringt, hinterlässt sie den meisten Schaden entlang eines geradlinigen Pfades. Die Ionen zerstören molekulare Strukturen und lösen dabei zugleich Kaskaden sekundärer Teilchen aus, häufig hochenergetische Elektronen, die ebenfalls zerstörerisch wirken. Besonders empfindlich ist das Molekül DNA (Desoxyribonukleinsäure), in dem die Erbinformationen gespeichert sind. Zwar können die Körperzellen Verletzungen grundsätzlich reparieren, doch wenn die Strahlung zu intensiv wird, sind die Selbstheilungskräfte überfordert. Es kommt zur dauerhaften Schädigung von Zellen, die sich unter Umständen erst Jahre später zu Krebstumoren entwickeln können. Bei starken Strahlungsdosen kann es auch zu akuten Symptomen kommen, die mit Kopfschmerzen, Übelkeit und Fieber teilweise denen einer Grippe ähneln. Und wie bei einer Grippe können die Betroffenen sich wieder erholen – oder daran sterben.
Strahlung ist unsichtbar, unspürbar, aber extrem schädlich, keine Frage. Wie sie im Detail auf den menschlichen Körper wirkt, ist gleichwohl erst ansatzweise erforscht. Die bisherigen Erkenntnisse beruhen zum großen Teil auf Modellen und Simulationen – und auf den Erfahrungen der Opfer der Atombombenangriffe auf Japan am Ende des Zweiten Weltkriegs. »Die Langzeitdaten und Strahlungsrisikoabschätzungen basieren hauptsächlich auf den Daten, die wir aus Hiroshima und Nagasaki kennen – leider«, sagt Thomas Ber- ger, Strahlenphysiker beim Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt (DLR). »Hier wissen wir ziemlich genau, wie viel Dosis die jeweilige Population in einem bestimmten Abstand vom Epizentrum der Explosion abbekommen hat. Das wurde medizinisch nachverfolgt.«
Berger leitet am DLR-Institut für Luft- und Raumfahrtmedizin die Arbeitsgruppe Biophysik. Den größeren Forschungsbedarf sieht er klar bei den Lebenswissenschaften: »Offene Fragen stellen sich derzeit vor allem in der Biologie, beim Verständnis, was Strahlung mit dem Menschen macht, wie sie die DNA schädigt, etwa zu Doppelstrangbrüchen führt.« Auch die Selbstheilungsmechanismen des Körpers seien noch zu wenig verstanden.
Bei den physikalischen Messungen dagegen seien die Forscher »schon ziemlich gut«. So haben DLR-Forscher im Rahmen des »Matroschka«Experiments eine Puppe für eineinhalb Jahre außerhalb der Raumstation befestigt, um die Strahlungsbelastung eines Astronauten zu ermitteln, der nur durch einen Raumanzug geschützt ist. Um genau zu messen, wie stark die verschiedenen Körperregionen der Strahlung ausgesetzt sind, ist die einem menschlichen Torso nachgebildete Puppe mit 600 Detektoren ausgestattet. Im Jahr 2018 sollen zwei Matroschkas mit dem neuen US-Raumschiff Orion zum Mond fliegen, eine geschützt durch eine Strahlenschutzweste, die andere zum Vergleich ohne Schutz.
Gegenwärtig läuft auf der ISS noch das Experiment DOSIS 3D, bei dem die dreidimensionale Verteilung der Strahlungsintensität innerhalb der Raumstation untersucht wird. Dafür wurden dort unterschiedliche Sensoren verteilt, aktive und passive. Bei den aktiven Sensoren wird durch die Wechselwirkung mit der Strahlung Strom erzeugt, wie beim klassischen Geigerzähler. Das ermöglicht Messungen in Echtzeit, sodass Änderungen im zeitlichen Verlauf festgestellt werden können, erfordert aber auch Energie und Übertragungskapazitäten, um die Daten regelmäßig zur Erde zu übermitteln. Die passiven Sensoren sind dagegen kleiner und anspruchsloser. »Das sind Kristalle, in deren Gitter die deponierte Energie der Strahlung gespeichert wird«, erklärt Berger. »Wir verwenden mehrere verschiedene Arten von Kristallen, die eine Weile der Strahlung ausgesetzt und danach auf der Erde untersucht werden, um zu ermitteln, was für eine Strahlungsdosis sie in dieser Zeit absorbiert haben. Diese Sensoren bieten keine zeitliche Auflösung, dafür sind sie leicht und lassen sich problemlos befestigen. Im Columbus-Modul haben wir elf solcher Sensorpakete untergebracht und können dadurch die dreidimensionale Verteilung der Strahlung bestimmen.«
Im Rahmen der Untersuchungen hat sich bereits gezeigt, dass die Strahlungsintensität innerhalb der Raumstation schon über wenige Meter um bis zu 70 Prozent variieren kann, wenn zum Beispiel Schränke oder andere Geräte für eine stärkere Abschirmung sorgen. Außerdem haben die Höhe und die orbitale Position der ISS einen messbaren Einfluss. Und schließlich ist die kosmische Strahlung auch abhängig von der Sonnenaktivität, die in einem elfjährigen Zyklus schwankt: Eine aktive Sonne stärkt das interplanetare Magnetfeld, das die hochenergetischen Teilchen aus dem interstellaren Raum abschirmt. »Zugleich steigt aber die Wahrscheinlichkeit für solare Teilchenereignisse, die sehr hohe Dosen in kurzer Zeit verabreichen können«, gibt Berger zu bedenken.
Solche Sonnenstürme können tödlich sein. Die Besatzungen der Internationalen Raumstation, die sich noch im Schutz des irdischen Magnetfeldes bewegt, brauchen sie zwar nicht zu fürchten. Zukünftige Missionen zum Mond, Mars oder anderen Zielen im interplanetaren Raum müssen sich jedoch selbst davor schützen.
Das Problem dabei: Schutz braucht Masse. Pro Quadratzentimeter seien 20 bis 30 Gramm Wasser erforderlich, um ein interplanetares Raumschiff ausreichend abzuschirmen, schätzt Piero Spillantini, Physiker an der Universität Florenz, der sich mit verschiedenen Methoden der Abschirmung interplanetarer Raumschiffe beschäftigt hat. Da kommen, wenn das Raumschiff komplett mit Wasser eingehüllt werden soll, schnell mehrere Tonnen zusammen.
Allerdings bewegen sich die Teilchen in der ersten, heftigsten Phase eines Sonnensturms noch auf vorhersagbaren Bahnen, sodass eine teilweise Abschirmung des Raumschiffs ausreichen könnte. Voraussetzung dafür ist ein rechtzeitiges Erkennen der Gefahr. Eine plötzliche Erhöhung der Elektronendichte könnte etwa als Alarmsignal dienen, so Spillantini. Denn die leichteren Elektronen sind den Protonen und Ionen bei einem solaren Teilchenereignis etwa zehn Minuten voraus. In dieser Zeit müsste entweder das Raumschiff mit seiner stärker abgeschirmten Seite in Richtung der sich nähernden Strahlungswolke ausgerichtet werden oder die Besatzung müsste sich in einen Schutzraum zurückziehen.
Für einen vom einstigen Weltraumtouristen Denis Tito vorgeschlagenen Vorbeiflug am Mars hat Spillantini einen solchen Schutzraum für zwei Astronauten in einem 13-Tonnen-Raumschiff entworfen: Um einen zwei Meter langen Zylinder mit 60 bis 100 Zentimetern Durchmesser ausreichend abzuschirmen, wären demnach 300 bis 400 Kilogramm Wasser erforderlich.
Für speziell trainierte Weltraumpioniere mag es zumutbar sein, sich vorübergehend in einer engen Röhre zu verkriechen. Wenn Menschen sich jedoch über längere Zeit im Welt- raum aufhalten sollen, etwa in Raumstationen in Mondnähe, ist das keine Option. Sie brauchen einen dauerhaften Schutz ihres gesamten Lebensraums, nicht nur vor Sonnenstürmen, sondern auch vor der galaktischen Strahlung, die ständig aus allen Richtungen wirkt. Spillantini geht von mindestens 20 Kubikmetern pro Person aus, die abgeschirmt werden müssen. Das könnte mithilfe starker Magnetfelder geschehen. Allerdings erfordert auch so ein aktiver Schutz viel Masse. Zudem sind supraleitende Materialien erforderlich, um Felder in der erforderlichen Stärke von mehreren Tesla zu erzeugen.
Immerhin sind die Forscher einer solchen magnetischen Abschirmung einen Schritt näher gekommen, seit es mit Magnesiumdiborid ein Material gibt, das bereits bei vergleichsweise hohen Temperaturen von 20 Kelvin (-253 Grad Celsius) supraleitend wird. Das liegt in einem Bereich, der mit elektrischer Kühlung erreichbar ist und keine eigenen Kühlmittel wie flüssiges Helium oder flüssigen Wasserstoff erfordert. Im Rahmen einer Studie der Europäischen Weltraumorganisation ESA zu einem solchen »Cryogen Free Superconducting Magnetic System« (CFSM) kamen italienische Forscher zu dem Ergebnis, dass sich mit 0,5 Kilowatt eine magnetische Linse erzeugen ließe, die einen Zylinder mit vier Metern Durchmesser in Richtung der Strahlung abschirmen könnte. Die dafür erforderliche Masse kalkulierten die Forscher mit maximal 1100 Kilogramm. Für einen gleichwertigen passiven Schutz seien dagegen 3350 kg Aluminium erforderlich.
Ein solcher, nur in eine Richtung wirkender Schutz wäre zwar nutzlos gegen die galaktische kosmische Strahlung, lässt aber hoffen, dass zukünftig auch eine Rundumabschirmung mit supraleitenden Magneten gewährleistet werden kann. Allerdings sind die Erkenntnisse zu Wirkungen von starken Magnetfeldern auf den menschlichen Organismus bislang ähnlich lückenhaft wie bei der kosmischen Strahlung. Es gibt Hinweise, dass eine magnetische Abschirmung, die stark genug wäre, kosmische Strahlungsteilchen abzulenken, auch auf Flüssigkeiten und Ionen im menschlichen Gleichgewichtsorgan wirken und Schwindelgefühle hervorrufen könnte. Statt von der kosmischen Strahlung würden die Weltraumbewohner demnach vom Schutzschirm zu Fall gebracht? Das klingt noch nicht wirklich überzeugend. Die Strahlung wird die Weltraumforscher wohl noch eine Weile beschäftigen.
Sonnenstürme können tödlich sein. Zukünftige Missionen zum Mond, Mars oder anderen Zielen im interplanetaren Raum müssen sich selbst davor schützen.