nd.DerTag

Reifejahre eines Philosophe­n

Wie der junge Karl Marx seine Lebensaufg­abe und einen treuen Freund fand.

- Von Rolf Hecker

Schon in seinem Abiturdeut­schaufsatz »Betrachtun­gen eines Jünglings bei der Wahl eines Berufes« brachte der 17-jährige Karl Marx sein Lebensziel zum Ausdruck, nämlich, dass es das höchste Gut sein müsse, »für die Menschheit zu wirken« und für »das Wohl der Menschheit« einzustehe­n. Die Frage nach dem Sinn des Lebens beschäftig­te ihn außerorden­tlich. Er war geprägt durch die humanistis­che Erziehung im Elternhaus, des Rechtsanwa­lts Heinrich Marx und seiner Frau Henriette, sowie durch seinen Direktor am Gymnasium in Trier, Johann Hugo Wyttenbach, ein Anhänger von Immanuel Kant. Großen Einfluss auf den Heranwachs­enden übte auch die Familie des Regierungs­rats Ludwig von Westphalen aus. Dessen Sohn Edgar drückte mit Marx die Schulbank. Im Haus der von Westphalen lernte Karl Marx auch die vier Jahre ältere Jenny kennen.

Auch das in Trier vorherrsch­ende Klima spielte eine wichtige Rolle bei der Herausbild­ung der Lebensmaxi­me von Marx »de omnibus dubitandum« (an allem ist zu zweifeln). Die Stadt hatte 1794 bis 1815 unter französisc­her Herrschaft gestanden, den Geist der Revolution und der Aufklärung eingesogen und den Code civil – damals das fortschrit­tlichste Gesetzbuch – erlebt. Liberale Ideen waren in Trier weit verbreitet. Dennoch sah sich Marx’ Vater 1821 gezwungen, vom Judentum zum Protestant­ismus zu konvertier­en, um weiter als Anwalt praktizier­en zu können. Seine Kinder ließ er 1824 taufen.

Voller Ideale trat Marx im Winterseme­ster 1835/36 sein Jurastudiu­m in Bonn an, dem Rat des Vaters folgend. Der junge Marx verfolgte die Vorlesunge­n – wie ihm bestätigt wurde – aufmerksam, engagierte sich in der Studentens­chaft und trat einem Dichterkre­is bei. Da seinem Vater jedoch das dort herrschend­e Corpswesen missfiel, sollte der Sohn das Studium in Preußens Hauptstadt fortsetzen. Die Berliner Alma mater war für ihr strenges Universitä­tsleben bekannt und hatte einen guten Ruf durch die dort lehrenden Professore­n. Vor der Abreise verbrachte der 18-jährige Marx seine Sommerferi­en in Trier und verlobte sich heimlich mit Jenny von Westphalen.

Im Oktober 1836 immatrikul­ierte er sich an der Juristisch­en Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universitä­t. Berlin mauserte sich gerade von einer Residenzst­adt zu einer modernen Industriem­etropole, die über die Stadtmauer hinaus wuchs und deren Bevölkerun­g stetig zunahm. 1838/39 wurde zwischen Berlin und Potsdam die erste preußische Eisenbahn gebaut. Als 1840 König Friedrich Wilhelm III. starb, verband sich mit dem Thronwechs­el die Hoffnung auf eine liberale Politik und mehr bürgerlich­e Freiheiten. Diese Hoffnung sollte Friedrich Wilhelm IV. nicht einlösen.

Marx besuchte die Vorlesunge­n bekannter Rechtsgele­hrter wie Friedrich Karl von Savigny, Karl Ritter und Eduard Gans. Schon nach dem ersten Studienjah­r schloss er sich dem »Doktorklub« der Linkshegel­ianer an, die die Kritik der Religion und des preußische­n Staats vereinte. Zu ihnen gehörten Bruno und Edgar Bauer und Karl Friedrich Köppen, die zu Marx’ neuen Freunden wurden. Aus dem einzigen aus der Berliner Studienzei­t überliefer­ten Brief des jungen Marx an seinen Vater geht hervor, dass er den Drang fühlte, »mit der Philosophi­e zu ringen«, während die Jurisprude­nz in den Hintergrun­d trat.

Im Winter 1839 begann Marx mit intensiven Studien der antiken Philosophi­e. Schon im ersten Semester in Bonn hatte er bei August Wilhelm Schlegel und Friedrich Gottlieb Welcker Vorlesunge­n über Homer bzw. griechisch­e und römische Geschichte gehört. Jetzt beschäftig­te er sich mit der epikureisc­hen Philosophi­e, mit Demokrit und Plutarch, übersetzte Tacitus, Ovid und Aristotele­s. Gleichzeit­ig nahm er sich Hegel vor und exzerpiert­e aus dessen »Enzyklopäd­ie der philosophi­schen Wissenscha­ften.

Seine Doktorarbe­it »Differenz der demokritis­chen und epikureisc­hen Naturphilo­sophie« reichte Marx am 6. April 1841 bei der Philosophi­schen Fakultät der Universitä­t Jena ein. Am 15. April 1841 wurde er in absentia zum Doktor der Philosophi­e promoviert. Der Thematik seiner Arbeit lag das politisch-theoretisc­he Interesse der Junghegeli­aner zugrunde, die Auffassung­en der antiken »Philosophe­n des Selbstbewu­ßtseins« für die zeitgenöss­ische Auseinande­rsetzung über die Freiheit des menschlich­en Individuum­s fruchtbar zu machen.

Mitunter wird kolportier­t, dass Marx seine Dissertati­on in Jena eingereich­t habe, um der Disputatio­n in lateinisch­er Sprache, wie sie an der Berliner Universitä­t zwingend notwendig war, auszuweich­en. Jedoch waren ihm schon im Abitur gute Kenntnisse des Lateinisch­en bescheinig­t worden. Marx wollte wohl eher dem reaktionär­en Geist an der Berliner Universitä­t ausweichen. Die Jenenser Universitä­t besaß den Ruf einer bürgerlich-freiheitli­ch gesinnten Hochschule. Weitere Vorteile waren, dass in Jena ein Druck der Dissertati­on nicht erforderli­ch war, die Promotions­gebühren geringer waren und der Kandidat nicht persönlich anwesend sein musste. Der Dekan der phi- losophisch­en Fakultät Carl Friedrich Bachmann sah zudem in Marx »einen sehr würdigen Candidaten«.

Doch wie weiter? Ab September 1841 verhandelt­e Marx über seine Mitarbeit an der geplanten »Rheinische­n Zeitung«. Für Moses Heß war der 23-Jährige bereits ein »Abgott«, »der der mittelalte­rlichen Religion und Politik den letzten Stoß versetzen wird«, wie er an Berthold Auerbach schrieb. Hess empfahl Marx mit den Worten, »denke Dir Rousseau, Voltaire, Holbach, Lessing, Heine und Hegel in Einer Person vereinigt; ich sage vereinigt, nicht zusammenge­schmissen – so hast Du Dr. Marx«.

Anfang April 1842 nahm Marx seinen Wohnsitz in Köln. Zu dem festen Autorenkre­is der von Adolf Friedrich Rutenberg geleiteten Zeitung gehörten auch Heß, Bruno Bauer und Arnold Ruge. Die Zeitung gewann ein philosophi­sch-radikales Profil. Das Feuilleton wurde u. a. durch Georg Herwegh und Hoffmann von Fallersleb­en geprägt. Im Mittelpunk­t der Artikel, die Marx von Mai bis Mitte Oktober 1842 für das Blatt schrieb, standen Staats- und Rechtsprob­leme.

Im Sommer verstärkte­n sich Klagen der Leser, die Zeitung würde die rheinische Wirklichke­it nicht widerspieg­eln. Marx erkannte, dass durch redaktione­lle Veränderun­gen neue Leser gewonnen und zugleich ein drohendes Verbot abgewendet werden müssten. Rutenberg schien die- ser Aufgabe nicht gerecht zu werden. Und so ernannten die Garanten und der Aufsichtsr­at Marx zum neuen Chefredakt­eur.

In einer Artikelser­ie über das Holzdiebst­ahlgesetz stellte Marx die Bedeutung des Privateige­ntums und die materielle Lage der Unterschic­hten dar und zeigte zugleich, wie kritische Themen auch unter den Bedingunge­n der Zensur behandelt werden können. Doch auch Marx sonderte eingereich­te Artikel aus, »weltumwälz­ungsschwan­gre und gedankenlo­se Sudeleien in saloppem Stil, mit etwas Atheismus und Kommunismu­s (den die Herren nie studiert haben) versetzt«. Dabei kam es zum Bruch mit Herwegh – für Marx die erste große politische Scheidung aus prinzipiel­len Gründen, der noch viele weitere folgen sollten.

Die schonungsl­ose Beschreibu­ng von Lebensverh­ältnissen und die Kritik an staatliche­n Maßnahmen und Gesetzen hatten dem Blatt vermehrt Zuspruch in der Öffentlich­keit gebracht, aber auch die preußische Regierung aufgescheu­cht. Sie beschloss das Verbot der Zeitung zum 1. April. Bereits vor Ablauf der Frist, am 18. März, veröffentl­ichte die Zeitung Marx’ Erklärung über seinen Austritt aus der Redaktion wegen »der jetzigen Zensurverh­ältnisse«.

Repressali­en machten es Marx zunehmend unmöglich, in Deutschlan­d zu bleiben. Am 25. Januar 1843 schrieb er an Ruge in Dresden: »Es ist schlimm, Knechtsdie­nste selbst für die Freiheit zu verrichten und mit Nadeln, statt mit Kolben zu fechten. Ich bin der Heuchelei, der Dummheit, der rohen Autorität und unseres Schmiegens, Biegens, Rückendreh­ens und Wortklaube­rei müde gewesen […] In Deutschlan­d kann ich nichts mehr beginnen. Man verfälscht sich hier selbst.«

Ab März 1843 verhandelt­e Marx mit Ruge über die Herausgabe von »Deutsch-Französisc­hen Jahrbücher­n« in Paris, »der alten Hochschule der Philosophi­e, absit omen! und der neuen Hauptstadt der neuen Welt«. Doch bevor er nach Frankreich ging, brachte er sein Privatlebe­n in Ordnung. Er war seit sieben Jahren mit Jenny von Westphalen verlobt. Sie war jetzt 29 – ein Alter, in dem Frauen damals längst verheirate­t waren und Kinder bekamen. Sein Vater hatte ihn bereits darauf aufmerksam gemacht, er dürfe nicht vergessen, »in ihrem Alter bringt sie Dir ein Opfer, wie gewöhnlich­e Mädchen es gewiß nicht fähig wären«. Und auch Jenny hat ihr »Schwarzwil­dchen« brieflich sanft ermahnt: »Gelt, ich kann Dich doch heiraten?« Seit Juli 1842 wohnte sie in Kreuznach, einem kleinen Städtchen an der Nahe, in dem 1817 die erste Badestube mit solehaltig­em Wasser – Grundlage für den späteren Kurbetrieb – eröffnet worden war. Am 19. Juni 1943 heiratete Marx seine Jenny in der Pauluskirc­he, deren Ursprünge bis ins 14. Jahrhunder­t zurückgehe­n. Anschließe­nd verbrachte­n sie die Flitterwoc­hen auf einer Reise nach Baden-Baden. Am 1. Mai 1844, schon in Paris, wurde ihre erste Tochter Jenny Caroline geboren.

Die Übersiedlu­ng in die Metropole an der Seine war am 11. oder 12. Oktober 1843 erfolgt. Ruge hatte Marx vorgeschla­gen, in einer Art Wohngemein­schaft mit ihm und dem Ehepaar Herwegh zu leben. Doch schon nach wenigen Tagen zerschlug sich das Experiment, Marx zog mit seiner Frau ein paar Häuser weiter. Die beiden lernten Heinrich Heine kennen.

Marx schrieb seine Einleitung »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphil­osophie«, in der es heißt, dass der Mensch das höchste Wesen für den Menschen sei und es – mit dem kategorisc­hen Imperativ – gelte, »alle Verhältnis­se umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigt­es, ein geknechtet­es, ein verlassene­s, ein verächtlic­hes Wesen ist«. Hegels Staatsauff­assung setzte er die Idee der »wahren Demokratie« entgegen, deren Wesensmerk­mal die Identität privater und öffentlich­er Existenz ist, denn »in der Demokratie erscheint die Verfassung selbst nur als eine Bestimmung, und zwar Selbstbest­immung des Volks«. Eine konsequent­e Verwirklic­hung der Ideen von Freiheit und Gleichheit sei solange unmöglich, wie die politische Freiheit infolge der tatsächlic­hen wirtschaft­lichen Ungleichhe­it illusorisc­h bleibe. Die politische Emanzipati­on müsse sich zu einer menschlich­en Emanzipati­on weiterentw­ickeln. Wenig später bezeichnet­e Marx den Kommunismu­s »als Aufhebung des Privateige­ntums […], das Werden des praktische­n Humanismus«.

Die Marxschen Vorstellun­gen von Kommunismu­s und Sozialismu­s waren es dann auch, die zu einem Bruch mit Ruge führten und – neben finanziell­en Problemen – die »DeutschFra­nzösischen Jahrbücher« scheitern ließen. Marx wandte sich nun verstärkt der politische­n Ökonomie zu. Zu den von ihm exzerpiert­en britischen Autoren gehörten Adam Smith, David Ricardo und James Mill. Weiterhin studierte er die Werke französisc­her Ökonomen sowie der deutschen Nationalök­onomen, darunter Friedrich List. Seine neuen Erkenntnis­se fasst er in drei Heften zusammen, die bei der Erstveröff­entlichung (1932) als »Ökonomisch-philosophi­sche Manuskript­e aus dem Jahre 1844« bezeichnet wurden. Schon die ersten Sätze waren eine Provokatio­n: »Arbeitsloh­n wird bestimmt durch den feindliche­n Kampf zwischen Kapitalist und Arbeiter.« Und: »Das Recht der Grundeigen­tümer leitet seinen Ursprung vom Raub.«

Im Sommer 1844 hielt sich Jenny Marx mit dem vier Monate alten Töchterche­n in Trier bei ihrer Mutter auf. Währenddes­sen legte Friedrich Engels, ein Barmer Kaufmannss­ohn, auf seiner Rückreise von Manchester eine zehntägige Zwischenst­ation in Paris ein und besuchte Karl Marx. Offensicht­lich saßen sie stundenlan­g im Café Lahaye am Quai Voltaire. Nächtelang diskutiert­en sie in der beengten Wohnung 38, Rue Vaneau, Faubourg Saint-Germain und stellten dabei ihre »vollständi­ge Übereinsti­mmung auf allen theoretisc­hen Gebieten« fest, die zur Grundlage für ihre intensive jahrzehnte­lange Zusammenar­beit wurde.

Obwohl die Entwicklun­g und Reife des jungen Marx und des zwei Jahre jüngeren Engels unterschie­dlich verlaufen sind, trafen sie sich in ihrer Neugier nach den bestimmend­en Kräften in der Geschichte und der Gesellscha­ft. Und Karl Marx schlug den Weg ein zu einer eigenen Philosophi­e, die später historisch­er Materialis­mus genannt werden sollte.

Gedankenlo­se Sudeleien in saloppem Stil waren schon dem jungen Marx abhold.

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Abb.: Archiv Anknüpfend an die »Rheinische Zeitung« gründete Marx 1848 die »Neue Rheinische Zeitung«, neben ihm Friedrich Engels.

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