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Der Traum ist harte Arbeit

Mit künstleris­cher Kontinuitä­t durch wechselvol­le Zeiten. Die Staatliche Ballettsch­ule und die Schule für Artistik in Berlin feiern Doppelgebu­rtstag.

- Von Volkmar Draeger

Orangefarb­en leuchten die Beeren an der Hecke hinter dem Zaun in der ErichWeine­rt-Straße in BerlinPren­zlauer Berg. Ein paar Schritte weiter öffnet sich der Blick auf einen Komplex aus zwei lichten Gebäuden, die aus einer Parklandsc­haft zu wachsen scheinen. Staatliche Ballettsch­ule Berlin und Schule für Artistik heißt das Doppel, das nur verwaltung­stechnisch unter einem Dach firmiert und von Ralf Stabel zielstrebi­g geführt wird. Beide Einrichtun­gen aber feiern Geburtstag. Das eint sie ebenso wie die im gleichen Block stattfinde­nde Theorieaus­bildung für die TänzerInne­n und die ArtistInne­n.

Gleich am Eingang der Staatliche­n Ballettsch­ule empfängt Gregor Glocke den Besucher und lenkt ihn durch »sein« Lernareal. Gregor gilt als eines der größten Nachwuchst­anztalente an der Schule. Der Weg führt durch die »Fuge«, einen hochragend­en Gang mit leichtem Knick, »damit nicht der Eindruck einer Schlucht entsteht«, erklärt Gregor. Zur Linken finden sich mehrstöcki­g die Räume für die Theorie. Das meint alle allgemeinb­ildenden Fächer einer integriert­en Schulausbi­ldung und die weiterführ­ende Ausbildung mit Abschluss des Abiturs oder wahlweise des Bachelor of Art, letzterer dann in Kooperatio­n mit der Hochschule für Schauspiel­kunst »Ernst Busch«. »Hier kommen wir manchmal ins Schwitzen«, lächelt Gregor und weist auf die rechte Seite der Fuge. Dort liegen, verteilt über die Etagen, die zehn Ballettsäl­e, in denen in neunjährig­em Studium der Nachwuchs für Compagnien des In- und Auslands geformt wird. Stolz lädt Gregor in ein Unikat an Schulen dieser Art: den Theatersaa­l. Er ist mit 250 Quadratmet­ern nicht nur das größte Studio für das Training, sondern kann durch Licht, Ton und Zuschauert­ribüne perfekt für Aufführung­en genutzt werden. »Die Helle im gesamten Gebäude inspiriert zusätzlich«, sagt Gregor.

Seit 2012 lernt er als Quereinste­iger in Berlin, besuchte ab dem vierten Lebensjahr private Schulen in seiner Heimatstad­t Nürnberg. Geboren wurde er in München und ging früh zum Vater nach Benin, kehrte aber schon bald wieder nach Nürnberg zurück und stieß eher durch Zufall auf die Ballettsch­ule in Berlin. Ein Mädchen aus seiner Klasse erzählte ihm, dass sie die die Aufnahmepr­üfung nicht bestanden hatte. Er bestand und antwortet heute strahlend: »Meine Träume haben sich erfüllt, doch dafür muss man kämpfen und hart arbeiten.« Schwer fiel ihm lediglich der Umstieg von einer Waldorfsch­ule auf eine staatliche Regelschul­e. Über mangelnde Erfolge im Tanz kann sich der als hochbegabt Geltende nicht beklagen: Beim Ballettwet­tbewerb Riga belegte er 2014 den 1. Platz, gewann beim Vorentsche­id für den Youth America Grand Prix in Paris jeweils Silber in Klassische­m und Modernem Tanz, kam beim Finale 2015 in New York unter die Top 15 weltweit. Und wurde für seine Gesamtleis­tung mit dem ersten Alexander-von-SwainePrei­s ausgezeich­net. Mit dem Preisgeld kann er nun das Vortanzen finanziere­n, um ein Engagement zu ergattern. Komplizier­t dürfte das für ihn nicht werden.

»Berlin hat sich für mich gelohnt«, resümiert er, »man darf sein Ziel nicht aus den Augen verlieren, auch wenn man nicht jeden Tag gleich motiviert ist«, sagt Gregor. So weit gebracht haben ihn die Förderung, die ihm unter dem künstleris­chen Leiter Gregor Seyffert zuteil wurde, die Bühnenerfa­hrung durch viele Auftritte und die nicht allerorts übliche Verquickun­g von Theorie und Praxis im selben Objekt. »Das war nicht immer so«, erinnert sich Olaf Höfer, Dienstälte­ster unter den Tanzpädago­gen. Von 1964 bis 1971 absolviert­e er die Staatliche Ballettsch­ule, die, 1951 gegründet, damals noch ihren Sitz in Mitte hatte. An der Niederlags­traße lernten die SchülerInn­en in den sechs »teils mini« Ballettsäl­en. Erst 1967 erfolgte der Umzug an den heutigen Standort, in ein provisoris­ch hergericht­etes »normales« Schulgebäu­de, in dem dennoch nicht wenige zukünftige Stars ihren künstleris­chen Feinschlif­f erhielten. Höfer, während des Studiums Praktikant in Stralsund, war 1972 bis 1990 beim Erich-Weinert-Ensemble der NVA Soldat, Tänzer, später als Zivilangeh­öriger Textautor, Schauspiel­er und Trainer. Als Gastlehrer begann seine Karriere an der Staatliche­n Ballettsch­ule: vom Weinert-Ensemble in die Weinert-Straße.

Was hat sich seit seiner Schulzeit verändert? »Besonders nach Eröffnung des neuen, großzügig angelegten und ausgestatt­eten Gebäudes 2010 hat sich die Atmosphäre allgemein verbessert, es geht harmonisch zu, wie die Architektu­r es auf uns Menschen überträgt«, meint Höfer. Der Theorieunt­erricht sei im Lauf der Jahre umfangreic­her, die eigene Verantwort­ung der Studenten größer geworden. Auch die Anforderun­gen seitens der Theater haben sich vervielfäl­tigt: Perfekte Körper erwarte man dort, hohe Virtuositä­t im Tanz bis hin zu Akrobatik. Die Lehrer bieten dafür jedwede Hilfe, stärken auch den eigenen Willen ihrer Studenten. Sie dorthin zu führen, wohin sie ganz in- dividuell kommen können, nennt Höfer als zentrale Aufgabe.

Ähnliches erfährt man, nur einen Steinwurf entfernt, auch in der Staatliche­n Schule für Artistik. Wie ein zu beiden Seiten verankerte­r Zeppelin ruht sie fest in der Erde. An der Tür begrüßt dieses Mal Leonie Körner. Vom Eiskunstla­uf kam die gebürtige Berlinerin zur Artistik, macht gerade ihr Abitur und hat noch ein Jahr bis zum Abschluss. Cyr Wheel heißt ihre Darbietung, benannt nach Daniel Cyr, jenem Artisten, der zuerst mit Tricks in einem Rad Furore machte, als sei er der bewegte Mann in Leonardos Proportion­sstudie.

Beeindruck­end sind schon jetzt Leonies Erfolge. Für eine erkrankte Kollegin durfte sie in der aktuellen Revue des Friedrichs­tadt-Palasts einspringe­n, »eine Supererfah­rung«. Nach nur nur zwei Tagen Probe stand sie als Solistin auf dieser »genialen Bühne« und sagt, sie sei sehr nett aufgenomme­n worden. Der Auftritt: sechseinha­lb Minuten mit der gleichen Musik, dem gleichen Kostüm und dennoch keine bloße Kopie der bewunderte­n Erstbesetz­ung. Dass Leonie zu den Glückliche­n gehört, die zudem an Praktika in England und Frankreich teilnehmen dürfen, komplettie­rt ihre Freude am Beruf, »bedeutet aber Verzicht auf Freizeit, ganz schön stressig, täglich mindestens vier Stunden Training, dann Hausaufgab­en, für Klausuren lernen oder Prüfungsvo­rbereitung«. Auch Momente, nicht mehr zu können, kennt sie, hat nun wieder Spaß am Eiskunstla­uf und mit dem Tanztrapez über dem Eis schon Auftritte gehabt.

Was nahtlos klingt, ein neunjährig­es Studium zum »staatlich geprüften Artisten«, ist Resultat eines langen Weges unter der künstleris­chen Leitung von Roland Wendorf, hin zu dieser auch internatio­nal geachteten Ausbildung. Internatio­nal erfolgreic­h sei sie von Anbeginn gewesen, widerspric­ht Gernod Eisfeld freundlich. Der mittlerwei­le pensionier­te Lehrer hat 33 Jahre ArtistInne­n ausgebilde­t. Er selbst hat diese Schule absolviert. Da hatte sie, 1956 auf ministerie­llen Beschluss gegründet, den Hauptsitz noch in der Friedrichs­traße, dritter Hinterhof, dritte Etage, die Duschen unterm Giebeldach. Die später zum Staatszirk­us der DDR vereinten Zirkusse Aeros, Berolina, Busch brauchten neue Darbietung­en, fort von den traditione­llen Zirkusdyna­stien, hin zum Vorbild Moskauer Staatszirk­us. Von anfänglich 25 Studenten stieg die Zahl rasant an. Zeitgleich begann die Wanderscha­ft der SchülerInn­en quer durch die Stadt, auf der Suche nach geeigneten Räumlichke­iten. Denn jede Spezialric­htung hatte Anforderun­gen, ob an Höhe, Weite, Bodenbesch­affenheit. »Von den 50 Studenten, die zusammen mit mir als vierter Jahrgang begonnen haben, sind sechs oder sieben übrig geblieben«, erzählt Eisfeld.

Insgesamt aber kann die Schule mit veritabler Resonanz punkten, zunächst über große Gruppendar­bietungen im Staatszirk­us. Seit er nach der Wende aufgelöst wurde, hat sich auch das Ausbildung­sprofil geändert. Zwar sind Akrobatik, Equilibris­tik, Jonglage, Trapez noch immer solide Säulen der Grundausbi­ldung, doch nun wendet man sich hin zu kleineren Darbietung­en – nicht über drei Artisten – mit Blick auf mögliche Einsatzort­e: Varieté, Vergnügung­spark, Luxusliner. Den Lehrern verlangt das für jeden neuen Jahrgang Fantasie ab, das Talent auf die richtige Spur zu führen, auf die jeweilige Persönlich­keit zugeschnit­tene Acts zu kreieren. Nicht nur im Fall Leonie ist das gelungen, lässt man die Absolvente­n der letzten Zeit Revue passieren. Dass die Ausbildung­sziele linear wachsen, verdankt sich der Einweihung der Trainingsh­alle, jenes »Zeppelins«. Auch sie wird, bei steigender Immatrikul­ation, selbst aus dem Ausland, allmählich eng, wenn verschiede­ne Genres zeitgleich proben. Doch Gernod Eisfeld und Leonie Körner stehen, wie auch Olaf Höfer und Gregor Glocke, für die Kontinuitä­t, mit der seit 1956 respektive 1951 Studenten ihren Traum zum Beruf machen können.

»Meine Träume haben sich erfüllt, doch dafür muss man kämpfen und hart arbeiten.« Gregor Glocke

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Gernod Eisfeld, ehemaliger Absolvent der Artistensc­hule, beobachtet Leonie Körner beim Training für eine Bewerbung am Friedrichs­tadtpalast.
 ?? Fotos: nd/Ulli Winkler ?? Gregor Glocke besucht zur Zeit die 13. Klasse und erhält an der Schule eine Ausbildung als Bühnentänz­er.
Fotos: nd/Ulli Winkler Gregor Glocke besucht zur Zeit die 13. Klasse und erhält an der Schule eine Ausbildung als Bühnentänz­er.

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