Für meine Tochter will ich kein Loser sein
Wertebildung unter jungen Menschen mit Migrationshintergrund
Werte erlernt man nicht, sondern erwirbt sie Stück für Stück, meint die Lehrerin Regina Girod, die viele Schüler mit ausländischen Wurzeln betreut. Tarek – wir nennen ihn hier so – ist Palästinenser. Seine Familie stammt aus dem Libanon. Er ist in Deutschland geboren, 30 Jahre alt und Vater einer kleinen Tochter. Vor wenigen Wochen hat er an einer privaten Berufsfachschule in Berlin die Ausbildung zum Sozialassistenten abgeschlossen. Bis vor zwei Jahren hatte er nur einen Hauptschulabschluss und diverse Jobs, mit denen er sich über Wasser hielt. Dann heiratete er und wurde Vater. Und damit wurde (fast) alles anders. »Die Schule habe ich gehasst, die Lehrer auch, und sie hassten mich. Ich kann vieles nicht und denke, man sieht es mir an, und man sieht mich so an.« Er nennt das sein »Hauptschulgesicht«. Seine Tochter sah ihn nie so an; für sie war er der liebevolle, starke Vater. Für sie vor allem wollte er ein Vater mit einem richtigen Berufsabschluss werden und kein »Loser« sein. Mit der Abschlussnote 2,1 hat er das jetzt geschafft und mit ihm ein ganzer Jahrgang, bestehend aus jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren.
Mehr als 50 Prozent von ihnen haben einen Migrationshintergrund, doch die meisten wurden schon in Deutschland geboren. Jedes an der Berufsfachschule beginnende neue Semester vereint mehr Nationalitäten. Einfach sei das nicht, sagt Regina Girod, die an der Schule sozialpsychologische Themenfelder unterrichtet. »In meinem Unterricht behandle ich auch Themen, wie die Entstehung und Funktion gesellschaftlicher Normen und Werte oder die Frage, wie der Mensch sein eigenes Wertsystem entwickelt.« Allein die Beschäftigung mit dem Thema sei für viele Schüler eine Offenbarung gewesen, lebten manche doch zwischen zwei, einige sogar zwischen drei Kulturen. Da die Fähigkeit zur Selbstreflexion grundlegend für die Arbeit in sozialen Berufen ist, lässt der Lehrplan Raum zur Diskussion individueller Sozialisationserfahrungen. Gerade für Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund sei dies wichtig und vor allem ganz anders als die Vermittlung deutscher Werte in Integrationskursen oder auf Apps für Flüchtlinge und Migranten.
»Viele Leute stellen sich vor: Wir bringen diesen Menschen bei, welche Normen bei uns gelten, welche Werte für uns wichtig sind, so wie man Schülern Rechnen beibringt. Wer aufpasst, lernt schnell das Einmaleins, wer im Unterricht mit seinem Handy spielt oder Rechnen für überflüssig hält, lernt es nicht, übernimmt also auch keine Normen und Werte. Aber so funktioniert das nicht. Normen und Werte sind das Rückgrat von Gemeinschaften, sie machen Kooperation und Kommunikation möglich. Das notiert man sich nicht und lernt es dann auswendig. Man übernimmt vielmehr in einem Prozess die Normen und Werte von Gruppen, zu denen man gehört und mit denen man kooperieren muss.«
Das Gerede von der Weigerung, sich »unseren« Normen anzupassen, ist aus Girods Sicht Unfug. »Wenn man (noch) nicht dazu gehört oder ausgegrenzt und abge- wertet wird, kann man das Wertesystem nicht übernehmen. Wozu sollte man? Die Reihenfolge ist eine andere. Nicht der Fremde übernimmt mal rasch unsere Werte, und dann akzeptieren wir ihn (vielleicht), sondern wir nehmen ihn auf, nehmen ihn an in seiner Verschiedenartigkeit, und nach und nach übernimmt er als Teil der Gemeinschaft mehr und mehr unsere Wer- te und Normen. Die Deutschen fragen sich zu wenig, was sie selbst für eine gelingende Akkulturation tun müssen, fordern aber von der anderen Seite eine nicht leistbare Anpassung.«
Ihre Schülerinnen und Schüler haben sich im Unterricht und in persönlichen Gesprächen geöffnet, erzählt Regina Girod. Sie haben über frühere Arbeiten in der Gastronomie oder auf dem Bau gesprochen, wo die Mindeststandards des deutschen Arbeitsrechts oft nicht eingehalten und sie gnadenlos ausgebeutet wurden. »Meine Schüler haben Entwertung und Ausgrenzung sowohl durch staatliche Institutionen als auch im Arbeitsleben erfahren. Mir ist durch ihre Berichte bewusst geworden, wie stark Abwertung, Ungleichheit und Ungerechtigkeit, die Jugendliche mit Migrationshintergrund in Deutschland immer wieder erleben, ihren Wertbildungsprozess beeinflussen.«
Mehr über ihre Arbeit an der Schule und den Zusammenhang von Ausgrenzung und der Entwicklung des Wertesystems junger Menschen wird Regina Girod beim Kongress berichten. Neuen Gesellschaft für Psychologie soll zur Beantwortung dieser Frage ihr mediales Verhalten psychologisch analysiert werden.
In ihrer Neujahrsansprache für das Jahr 2017 sprach die Kanzlerin trotz eines zurückliegenden Jahres voller »schwerer Prüfungen« von ihrer »Zuversicht«. Die schwerste aller Prüfungen sei der »islamistische Terrorismus« gewesen. Diese Mörder seien voller Hass, »aber wie wir leben und leben wollen, dass bestimmen nicht sie. Wir sind frei, mitmenschlich, offen«. Den Ursachen der Bedrohung wird nicht weiter nachgegangen.
Angela Merkel betreibt eine weltmarktkonforme Politik, die als solche indes kaum jemals Eingang in ihre Präsentation findet. Wie kaum eine zweite Politikerin verfügt sie über die Fähigkeit, auszuweichen und auszulassen, sei dies durch ein passives Verschweigen wichtiger Sachverhalte oder durch aktives Verschweigen im Sinne des Ungeschehen-Machens eigener Entscheidungen und Verhaltensweisen, worunter Psychoanalytiker verstehen, dieselben so zu präsentieren, dass eine dem Verschwiegenen entgegengesetzte Bedeutung zum Vorschein kommt.
An vielen Stellen von Merkels medialen Präsentationen werden die Fluchtursachen primär mit den »Schleppern« in Verbindung gebracht, die zu Zeiten der DDR noch »Fluchthelfer« hießen. Die Bürger/innen können so nicht erkennen, durch wen die wahren Fluchtursachen produziert werden. Auf die Bekämpfung der Fluchtursachen angesprochen, gibt Merkel den Lesern in einem Interview für eine große Boulevardzeitung zu verstehen, dass es mit der EU-Türkei-Vereinbarung gelungen sei, das Schlepperwesen einzudämmen und Menschenleben zu retten, was das wichtigste Ziel sei. (»Bild«, 3.9.16, S. 3).
Nach Merkels Meinung braucht das Land in diesen unruhigen Zeiten weiterhin jemanden mit ihren Fähigkeiten und ihrer Erfahrung: »Wir werden es mit Anfechtungen von allen Seiten zu tun haben, von rechts und von links, von innen und von außen. Anfechtungen auf unsere Werte, auf unsere Art zu leben« (ZDFNachrichten vom 20.11.16). Merkel fragt nicht nach den Ursachen dieser Anfechtungen. Sie bevorzugt die Verklärung der Begriffe. Beispielsweise vertauscht sie den Begriff »Neoliberalismus« in vielen ihrer medialen Auftritte durch ihr »überwältigendes Grundbekenntnis zur sozialen Markwirtschaft« oder ihre »expansive Politik« durch »Übernahme von Verantwortung in der Welt«. Merkels Merkmal ist die Maskierung der Macht.
Wenn man (noch) nicht dazu gehört oder ausgegrenzt und abgewertet wird, kann man das Wertesystem nicht übernehmen. Wozu sollte man?