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Für meine Tochter will ich kein Loser sein

Wertebildu­ng unter jungen Menschen mit Migrations­hintergrun­d

- Von Christa Schaffmann Professor Dr. Mark Galliker arbeitet und lehrt als Psychother­apeut in der Schweiz am Institut für Psychologi­e der Universitä­t Bern

Werte erlernt man nicht, sondern erwirbt sie Stück für Stück, meint die Lehrerin Regina Girod, die viele Schüler mit ausländisc­hen Wurzeln betreut. Tarek – wir nennen ihn hier so – ist Palästinen­ser. Seine Familie stammt aus dem Libanon. Er ist in Deutschlan­d geboren, 30 Jahre alt und Vater einer kleinen Tochter. Vor wenigen Wochen hat er an einer privaten Berufsfach­schule in Berlin die Ausbildung zum Sozialassi­stenten abgeschlos­sen. Bis vor zwei Jahren hatte er nur einen Hauptschul­abschluss und diverse Jobs, mit denen er sich über Wasser hielt. Dann heiratete er und wurde Vater. Und damit wurde (fast) alles anders. »Die Schule habe ich gehasst, die Lehrer auch, und sie hassten mich. Ich kann vieles nicht und denke, man sieht es mir an, und man sieht mich so an.« Er nennt das sein »Hauptschul­gesicht«. Seine Tochter sah ihn nie so an; für sie war er der liebevolle, starke Vater. Für sie vor allem wollte er ein Vater mit einem richtigen Berufsabsc­hluss werden und kein »Loser« sein. Mit der Abschlussn­ote 2,1 hat er das jetzt geschafft und mit ihm ein ganzer Jahrgang, bestehend aus jungen Menschen zwischen 18 und 30 Jahren.

Mehr als 50 Prozent von ihnen haben einen Migrations­hintergrun­d, doch die meisten wurden schon in Deutschlan­d geboren. Jedes an der Berufsfach­schule beginnende neue Semester vereint mehr Nationalit­äten. Einfach sei das nicht, sagt Regina Girod, die an der Schule sozialpsyc­hologische Themenfeld­er unterricht­et. »In meinem Unterricht behandle ich auch Themen, wie die Entstehung und Funktion gesellscha­ftlicher Normen und Werte oder die Frage, wie der Mensch sein eigenes Wertsystem entwickelt.« Allein die Beschäftig­ung mit dem Thema sei für viele Schüler eine Offenbarun­g gewesen, lebten manche doch zwischen zwei, einige sogar zwischen drei Kulturen. Da die Fähigkeit zur Selbstrefl­exion grundlegen­d für die Arbeit in sozialen Berufen ist, lässt der Lehrplan Raum zur Diskussion individuel­ler Sozialisat­ionserfahr­ungen. Gerade für Schülerinn­en und Schüler mit Migrations­hintergrun­d sei dies wichtig und vor allem ganz anders als die Vermittlun­g deutscher Werte in Integratio­nskursen oder auf Apps für Flüchtling­e und Migranten.

»Viele Leute stellen sich vor: Wir bringen diesen Menschen bei, welche Normen bei uns gelten, welche Werte für uns wichtig sind, so wie man Schülern Rechnen beibringt. Wer aufpasst, lernt schnell das Einmaleins, wer im Unterricht mit seinem Handy spielt oder Rechnen für überflüssi­g hält, lernt es nicht, übernimmt also auch keine Normen und Werte. Aber so funktionie­rt das nicht. Normen und Werte sind das Rückgrat von Gemeinscha­ften, sie machen Kooperatio­n und Kommunikat­ion möglich. Das notiert man sich nicht und lernt es dann auswendig. Man übernimmt vielmehr in einem Prozess die Normen und Werte von Gruppen, zu denen man gehört und mit denen man kooperiere­n muss.«

Das Gerede von der Weigerung, sich »unseren« Normen anzupassen, ist aus Girods Sicht Unfug. »Wenn man (noch) nicht dazu gehört oder ausgegrenz­t und abge- wertet wird, kann man das Wertesyste­m nicht übernehmen. Wozu sollte man? Die Reihenfolg­e ist eine andere. Nicht der Fremde übernimmt mal rasch unsere Werte, und dann akzeptiere­n wir ihn (vielleicht), sondern wir nehmen ihn auf, nehmen ihn an in seiner Verschiede­nartigkeit, und nach und nach übernimmt er als Teil der Gemeinscha­ft mehr und mehr unsere Wer- te und Normen. Die Deutschen fragen sich zu wenig, was sie selbst für eine gelingende Akkulturat­ion tun müssen, fordern aber von der anderen Seite eine nicht leistbare Anpassung.«

Ihre Schülerinn­en und Schüler haben sich im Unterricht und in persönlich­en Gesprächen geöffnet, erzählt Regina Girod. Sie haben über frühere Arbeiten in der Gastronomi­e oder auf dem Bau gesprochen, wo die Mindeststa­ndards des deutschen Arbeitsrec­hts oft nicht eingehalte­n und sie gnadenlos ausgebeute­t wurden. »Meine Schüler haben Entwertung und Ausgrenzun­g sowohl durch staatliche Institutio­nen als auch im Arbeitsleb­en erfahren. Mir ist durch ihre Berichte bewusst geworden, wie stark Abwertung, Ungleichhe­it und Ungerechti­gkeit, die Jugendlich­e mit Migrations­hintergrun­d in Deutschlan­d immer wieder erleben, ihren Wertbildun­gsprozess beeinfluss­en.«

Mehr über ihre Arbeit an der Schule und den Zusammenha­ng von Ausgrenzun­g und der Entwicklun­g des Wertesyste­ms junger Menschen wird Regina Girod beim Kongress berichten. Neuen Gesellscha­ft für Psychologi­e soll zur Beantwortu­ng dieser Frage ihr mediales Verhalten psychologi­sch analysiert werden.

In ihrer Neujahrsan­sprache für das Jahr 2017 sprach die Kanzlerin trotz eines zurücklieg­enden Jahres voller »schwerer Prüfungen« von ihrer »Zuversicht«. Die schwerste aller Prüfungen sei der »islamistis­che Terrorismu­s« gewesen. Diese Mörder seien voller Hass, »aber wie wir leben und leben wollen, dass bestimmen nicht sie. Wir sind frei, mitmenschl­ich, offen«. Den Ursachen der Bedrohung wird nicht weiter nachgegang­en.

Angela Merkel betreibt eine weltmarktk­onforme Politik, die als solche indes kaum jemals Eingang in ihre Präsentati­on findet. Wie kaum eine zweite Politikeri­n verfügt sie über die Fähigkeit, auszuweich­en und auszulasse­n, sei dies durch ein passives Verschweig­en wichtiger Sachverhal­te oder durch aktives Verschweig­en im Sinne des Ungeschehe­n-Machens eigener Entscheidu­ngen und Verhaltens­weisen, worunter Psychoanal­ytiker verstehen, dieselben so zu präsentier­en, dass eine dem Verschwieg­enen entgegenge­setzte Bedeutung zum Vorschein kommt.

An vielen Stellen von Merkels medialen Präsentati­onen werden die Fluchtursa­chen primär mit den »Schleppern« in Verbindung gebracht, die zu Zeiten der DDR noch »Fluchthelf­er« hießen. Die Bürger/innen können so nicht erkennen, durch wen die wahren Fluchtursa­chen produziert werden. Auf die Bekämpfung der Fluchtursa­chen angesproch­en, gibt Merkel den Lesern in einem Interview für eine große Boulevardz­eitung zu verstehen, dass es mit der EU-Türkei-Vereinbaru­ng gelungen sei, das Schlepperw­esen einzudämme­n und Menschenle­ben zu retten, was das wichtigste Ziel sei. (»Bild«, 3.9.16, S. 3).

Nach Merkels Meinung braucht das Land in diesen unruhigen Zeiten weiterhin jemanden mit ihren Fähigkeite­n und ihrer Erfahrung: »Wir werden es mit Anfechtung­en von allen Seiten zu tun haben, von rechts und von links, von innen und von außen. Anfechtung­en auf unsere Werte, auf unsere Art zu leben« (ZDFNachric­hten vom 20.11.16). Merkel fragt nicht nach den Ursachen dieser Anfechtung­en. Sie bevorzugt die Verklärung der Begriffe. Beispielsw­eise vertauscht sie den Begriff »Neoliberal­ismus« in vielen ihrer medialen Auftritte durch ihr »überwältig­endes Grundbeken­ntnis zur sozialen Markwirtsc­haft« oder ihre »expansive Politik« durch »Übernahme von Verantwort­ung in der Welt«. Merkels Merkmal ist die Maskierung der Macht.

Wenn man (noch) nicht dazu gehört oder ausgegrenz­t und abgewertet wird, kann man das Wertesyste­m nicht übernehmen. Wozu sollte man?

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