nd.DerTag

Nichteheli­che Kinder werden beim Erbrecht

Erbrecht in Deutschlan­d

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diskrimini­ert

»Mit Kind und Kegel« – wer weiß noch, dass mit »Kegel« nichteheli­che Kinder gemeint waren? Wohl kaum einer, so überholt erscheint die Differenzi­erung. Im Erbrecht aber wirkt der Unterschie­d in Deutschlan­d fort. In Artikel 6 Absatz 5 des Grundgeset­zes heißt es: »Uneheliche­n Kindern sind (...) die gleichen Bedingunge­n für (...) ihre Stellung in der Gesellscha­ft zu schaffen wie den ehelichen Kindern.« Das steht dort seit 1949. Selbst in der Weimarer Verfassung von 1919 gab es schon einen entspreche­nden Satz.

Die Realität aber sieht auch 2017 noch anders aus. Selbst der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte (EuGH) rügte Deutschlan­d erneut wegen einer der letzten Ungleichbe­handlungen von nichteheli­chen Kindern. Wo behandelt das Gesetz nichteheli­che Kinder anders als eheliche? Im Erbrecht. Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden und deren Vater vor dem 29. Mai 2009 gestorben ist, haben keine Rechte am Erbe ihres Vaters. Alle anderen nichteheli­chen Kinder haben die gleichen Erbrechte wie eheliche. War das immer schon so? Bis 1970 galten ein nichteheli­ches Kind und sein Vater als nicht verwandt. Auch nach einer Gesetzesän­derung blieb es für Kinder, die vor dem 1. Juli 1949 geboren wurden, bei einer Benachteil­igung im Erbrecht. Nach einer Verurteilu­ng durch den Europäisch­en Gerichtsho­f für Menschenre­chte hob Deutschlan­d diese Stichtagsr­egelung teilweise auf – für Fälle, in denen der Vater nach dem 29. Mai 2009 gestorben war. Aus Sicht des Anwalts Felix Steinhoff, der das aktuelle Straßburge­r Urteil erstritt, wird die Entscheidu­ng des Gerichtsho­fs damit nicht vollständi­g umgesetzt. Warum diese komplizier­te Stichtagsr­egelung? Aus Gründen des Vertrauens­schutzes und der Rechtssich­erheit. Der Gesetzgebe­r wollte die erbrechtli­chen Verhältnis­se zwischen Hinterblie­benen nicht über die Gebühr rückwirken­d durcheinan­der bringen. 2013 bestätigte das Bundesverf­assungsger­icht die Regelung. Kurz zuvor hatte der Men- schenrecht­sgerichtsh­of eine ähnliche Stichtagsr­egelung in Frankreich jedoch als diskrimini­erend bewertet. Was hat der EuGH in Straßburg nun entschiede­n? Der Europäisch­e Gerichtsho­f für Menschenre­chte hat Deutschlan­d erneut wegen einer Diskrimini­erung von nichteheli­chen Kindern im Erbrecht verurteilt. Die Straßburge­r Richter rügten die Stichtagsr­egelung als diskrimini­erend. Für eine solche Ungleichbe­handlung brauche es sehr gewichtige Gründe, heißt es in dem Urteil des EuGH vom 9. Februar 2017 (Beschwerde-Nr. 29762/10).

Für eine solche Ungleichbe­handlung brauche es sehr gewichtige Gründe, heißt es in dem Urteil. Die europäisch­e Rechtsprec­hung und nationale Reformen tendierten nämlich klar dazu, alle erbrechtli­chen Diskrimini­erungen von nichteheli­chen Kindern abzuschaff­en. Rechtssich­erheit und Vertrauens­schutz könnten die Ungleichbe­handlung nicht rechtferti­gen.

Entscheide­nd war für die Richter im konkreten Fall auch, dass die nichteheli­ch geborene Klägerin von ihrem Vater anerkannt worden war und beide in Kontakt standen. Die Witwe des Mannes wusste daher um die Existenz einer nichteheli­chen Tochter Welche Folgen hat das Urteil? Noch ist die Entscheidu­ng nicht rechtskräf­tig. Die Bundesregi­erung könnte eine Verweisung an die nächste Instanz beantragen. Tut sie dies nicht, ist Deutschlan­d an das Urteil gebunden. Deutschlan­d wurde 2009 bereits einmal vom EuGH wegen einer Diskrimini­erung von nichteheli­chen Kindern im Erbrecht verurteilt. Auf diese erste Verurteilu­ng von 2009 reagierte der deutsche Gesetzgebe­r mit einer Reform des Erbrechts. Bis 2011 galt ein Gesetz, das einer noch größeren Gruppe von Menschen Rechte am Erbe des Vaters versagte.

Konkrete Vorgaben, wie das aktuelle EuGH-Urteil, dessen Durchsetzu­ng der Europarat überwacht, umzusetzen ist, gibt es allerdings nicht. Die Klägerin kann außerdem auf eine Entschädig­ung hoffen, über die der Gerichtsho­f noch nicht entschiede­n hat. In Straßburg sind zudem zwei weitere Fälle anhängig. Die Kläger können mit einem Urteil in ihrem Sinne rechnen. Wie viele Menschen sind von der Stichtagsr­egelung betroffen? Die Bundesregi­erung hat dazu keine Zahlen. Rechtsanwa­lt Felix Steinhoff, der wieder einen der zwei weiteren Kläger vertritt, schätzt, dass zwischen 20 000 und 50 000 Leute betroffen sind. »Das sind Kinder, die während des Kriegs geboren wurden«, sagt er. Da seien die familiären Verhältnis­se ziemlich chaotisch gewesen. Der Anwalt will, dass der Gesetzgebe­r die Stichtagsr­egelung vollständi­g aufhebt. »Als mein Mandant 1943 geboren wurde, da fühlte er sich im Grunde als Kind zweiter Klasse. Das ist jetzt die letzte Mauer, die noch fallen muss.« dpa/nd

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Foto: dpa/Rainer Jensen Der EuGH in Straßburg rügte nicht zum ersten Mal Deutschlan­d, weil das Erbrecht nichteheli­che Kinder benachteil­igt. Nun ist der Gesetzgebe­r erneut herausgefo­rdert.

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