Gemeinsam einsam am Ende der Welt
Wenn es in der letzten Zeit in Analysen zu dem, was schiefläuft, auf eine Beobachtung ankam, dann auf die, dass alles zu schnell, zu doll, zu weit geht – gehen muss. Immer mehr Welt in immer kürzerer Zeit erfahrbar machen, das treibt uns alle an. Hartmut Rosa, Oberguru der analytischen Soziologie, schreibt sich seit über zehn Jahren die Finger am Thema Entschleunigung wund, und die Menschen reißen ihm seine Bücher aus den Händen. Wer ein Sabbatical einlegen will, muss für eine gewisse Zeit härtere Lebenskonditionen akzeptieren, also die freie Zeit rausarbeiten. So ist das nun mal.
An diesem Punkt beginnt Isabelle Autissiers Roman »Herz auf Eis«, der für den renommierten französischen Buchpreis Prix Goncourt nominiert war. Zwei Menschen haben genug von dem, was sich wohl als ein extrem festgezurrter Alltag beschreiben lässt. Sie arbeitet als Steuerbeamtin, er ist Kommunikationsberater in einer Eventagentur. Das passt schon jetzt nicht zusammen, da ist die Erzählung gerade erst 24 Seiten alt. Oder sind sie gerade deshalb füreinander gemacht? Louise ist eine stille Einzelgängerin, Ludovic ein lebensbejahender Träumer, dem Leichtsinn verfallen, damit er überhaupt noch etwas außerhalb der Routine spüren kann.
Die beiden entschließen sich, eine Weltumsegelung zu wagen, und scheitern am Kap Hoorn im südlichen Atlantik, zwischen chilenischer Küste und dem weiten Nichts. Gestrandet auf einer Insel, die mal eine Wahlfangstation war und heute verlassen ist, die sie aber nie hätten betreten dürfen, weil sie mitten im Natur- schutzgebiet liegt. Einzige Nahrungsquelle sind Robben und Pinguine. Wie letztere verspeist werden, beschreibt Autissier geschmacklich so eindringlich scheußlich, dass jeder Toast Hawaii als Genuss erscheint. Entgegen allem, was uns die Lifestyleindustrie als Erholung verkauft, zeigt die Natur hier ihr menschenfeindlichstes Antlitz. Beim Lesen kriecht die Kälte in jede Pore, die Feuchtigkeit und der Geruch ranzigen Fleisches töten alle Abenteuerlichkeit, der Fokus ist nach innen gerichtet, nur aufs Überleben.
Louise und Ludovic kämpfen auf der Insel anfangs gegen die Natur, schlussendlich aber die meiste Zeit gegen einander. Die Rollen kehren sich um. Ludovic, der Louise in den Trip hineingequatscht hatte, resigniert zunehmend, überlässt die Entscheidung, weiterzumachen, bis das erste Forschungsschiff im Sommer die Insel streift, seiner Freundin, die irgendwann einen Entschluss fasst, der sie den Rest ihres Lebens sehr einsam – aber auf eine skurrile Art glücklich – machen wird.
»Herz auf Eis« speist seine Faszination aus Isabelle Autissiers besonderer Gabe, sich eine Natur anzueignen, die Millionen Jahre prima ohne den Menschen ausgekommen ist. Das kann nur einer Frau gelingen, die mit einer selbstgebauten Yacht allein um die Welt segelte. Eine Frau, die Ende der 1990er Jahre bei einer Regatta im Südpolarmeer kenterte und 24 Stunden unter Wasser hinter einer Rettungsluke ihres Bootes verbrachte, be- vor ein italienischer Regatta-Kontrahent sie fand.
Diese Geschichte, bei der man tunlichst vermeiden will, das Wort existenzialistisch zu benutzen, hat nichts von Robinson Crusoe. Die Zweierbeziehung gibt keinen Halt, es herrscht überhaupt kein Optimismus, und wenn, dann tarnt er sich als Verzweiflung. Alles, worum es geht, ist die Stärke, die Einsamkeit in einem Menschen provoziert. Darauf hätte sich Autissier voll einlassen sollen, denn einige Nebenfiguren und der gesamte Handlungsstrang, der Ludovics und Louises Erlebnisse medial ausschlachtet, wirkt auf die Erzählung wie ein Anästhetikum, das die eigentliche Frage, die am Ende des Buches steht, betäubt: Was hätte ich getan?
Isabelle Autissier: Herz auf Eis. Aus dem Französischen von Kirsten Gleinig. Mare Verlag. 224 S., geb., 22 €.