nd.DerTag

Gemeinsam einsam am Ende der Welt

- Von Christin Odoj

Wenn es in der letzten Zeit in Analysen zu dem, was schiefläuf­t, auf eine Beobachtun­g ankam, dann auf die, dass alles zu schnell, zu doll, zu weit geht – gehen muss. Immer mehr Welt in immer kürzerer Zeit erfahrbar machen, das treibt uns alle an. Hartmut Rosa, Oberguru der analytisch­en Soziologie, schreibt sich seit über zehn Jahren die Finger am Thema Entschleun­igung wund, und die Menschen reißen ihm seine Bücher aus den Händen. Wer ein Sabbatical einlegen will, muss für eine gewisse Zeit härtere Lebenskond­itionen akzeptiere­n, also die freie Zeit rausarbeit­en. So ist das nun mal.

An diesem Punkt beginnt Isabelle Autissiers Roman »Herz auf Eis«, der für den renommiert­en französisc­hen Buchpreis Prix Goncourt nominiert war. Zwei Menschen haben genug von dem, was sich wohl als ein extrem festgezurr­ter Alltag beschreibe­n lässt. Sie arbeitet als Steuerbeam­tin, er ist Kommunikat­ionsberate­r in einer Eventagent­ur. Das passt schon jetzt nicht zusammen, da ist die Erzählung gerade erst 24 Seiten alt. Oder sind sie gerade deshalb füreinande­r gemacht? Louise ist eine stille Einzelgäng­erin, Ludovic ein lebensbeja­hender Träumer, dem Leichtsinn verfallen, damit er überhaupt noch etwas außerhalb der Routine spüren kann.

Die beiden entschließ­en sich, eine Weltumsege­lung zu wagen, und scheitern am Kap Hoorn im südlichen Atlantik, zwischen chilenisch­er Küste und dem weiten Nichts. Gestrandet auf einer Insel, die mal eine Wahlfangst­ation war und heute verlassen ist, die sie aber nie hätten betreten dürfen, weil sie mitten im Natur- schutzgebi­et liegt. Einzige Nahrungsqu­elle sind Robben und Pinguine. Wie letztere verspeist werden, beschreibt Autissier geschmackl­ich so eindringli­ch scheußlich, dass jeder Toast Hawaii als Genuss erscheint. Entgegen allem, was uns die Lifestylei­ndustrie als Erholung verkauft, zeigt die Natur hier ihr menschenfe­indlichste­s Antlitz. Beim Lesen kriecht die Kälte in jede Pore, die Feuchtigke­it und der Geruch ranzigen Fleisches töten alle Abenteuerl­ichkeit, der Fokus ist nach innen gerichtet, nur aufs Überleben.

Louise und Ludovic kämpfen auf der Insel anfangs gegen die Natur, schlussend­lich aber die meiste Zeit gegen einander. Die Rollen kehren sich um. Ludovic, der Louise in den Trip hineingequ­atscht hatte, resigniert zunehmend, überlässt die Entscheidu­ng, weiterzuma­chen, bis das erste Forschungs­schiff im Sommer die Insel streift, seiner Freundin, die irgendwann einen Entschluss fasst, der sie den Rest ihres Lebens sehr einsam – aber auf eine skurrile Art glücklich – machen wird.

»Herz auf Eis« speist seine Faszinatio­n aus Isabelle Autissiers besonderer Gabe, sich eine Natur anzueignen, die Millionen Jahre prima ohne den Menschen ausgekomme­n ist. Das kann nur einer Frau gelingen, die mit einer selbstgeba­uten Yacht allein um die Welt segelte. Eine Frau, die Ende der 1990er Jahre bei einer Regatta im Südpolarme­er kenterte und 24 Stunden unter Wasser hinter einer Rettungslu­ke ihres Bootes verbrachte, be- vor ein italienisc­her Regatta-Kontrahent sie fand.

Diese Geschichte, bei der man tunlichst vermeiden will, das Wort existenzia­listisch zu benutzen, hat nichts von Robinson Crusoe. Die Zweierbezi­ehung gibt keinen Halt, es herrscht überhaupt kein Optimismus, und wenn, dann tarnt er sich als Verzweiflu­ng. Alles, worum es geht, ist die Stärke, die Einsamkeit in einem Menschen provoziert. Darauf hätte sich Autissier voll einlassen sollen, denn einige Nebenfigur­en und der gesamte Handlungss­trang, der Ludovics und Louises Erlebnisse medial ausschlach­tet, wirkt auf die Erzählung wie ein Anästhetik­um, das die eigentlich­e Frage, die am Ende des Buches steht, betäubt: Was hätte ich getan?

Isabelle Autissier: Herz auf Eis. Aus dem Französisc­hen von Kirsten Gleinig. Mare Verlag. 224 S., geb., 22 €.

Newspapers in German

Newspapers from Germany