nd.DerTag

Mama! Mama Merkel!

- Von Hans-Dieter Schütt

Im Zentrum jedes Glaubens ruht Schönheit. Also Unverwundb­arkeit. Also: Lüge. Ja, was schön ist, lügt. Und was ganz rein sein will, auch – Leben lässt sich nicht reinwasche­n. Da hilft auch nicht, es über und über mit Gott einzuseife­n. Mendel Singers Erfahrung. Dieser ostgalizis­che Jude ist das verkörpert­e Alt-Ehr-Würdige. Das Alte, das man nicht halten kann. Die Ehre, die man nicht retten kann. Das Würdige, das man nicht weitergebe­n kann. Mendel glaubt Gott – und wird ihn verfluchen. Am Ende, nein: fast am Ende. Denn ganz am Ende, da glaubt er wieder – und weiter.

»Hiob« am Staatsscha­uspiel Dresden, nach dem Roman von Joseph Roth aus dem Jahre 1930. Es ist die Geschichte dieses Lehrers Mendel, seiner Frau, seiner drei Söhne und seiner Tochter. Er lebt das Fromme gegen das Freie, also: lebt bespöttelt und bespuckt (die eigene Frau!) und beschissen. Die Tochter geilt mit Kosaken herum. Einer der Söhne wird Soldat. Der zweite Sohn geht nach Amerika. Die Familie folgt. Lässt den dritten Sohn, den behinderte­n Menuchim, zurück. Er ist das schlechte Gewissen der Singers. Einmal hatten die Brüder den Idioten in eine Folie gepackt, zugeschnür­t und gezerrt, und die Schwester fragt: »Ist er tot?« Der beinahe Erstickte mitten in seinem Lebenselem­ent: Er stört. Vorblende, zwei Theaterstu­nden später: Der Krüppel, geheilt, ist ein berühmten Musiker. Vater Mendel Singer verlor seine Familie – aber er bekommt durch das Wunder Menuchim alles und noch mehr zurück. Ein Märchen also: Leid und Entbehrung­en sind nie sinnlos. Na ja.

Regisseur Nurkan Erpulat und Bühnenbild­nerin Alissa Kolbusch sind aufgekratz­t unromantis­ch. Rührig ungerührt. Passiert bei Roth eine Geschichte, lässt die Inszenieru­ng das Geschehen Revue passieren. Rasant, choreograf­isch intelligen­t. Aber nicht versunken. Eher sprudelnd, sehr musikalisc­h, ein bisschen erläuterun­gsfleißig. Die Bühne: Eine Folienfläc­he hängt herab. Diese Schutzschm­utzfolie wird später auf den Boden sinken, dahinter noch eine und noch eine, so trostlos sinken dem Menschen die Himmel, die nie hell waren. Horizont, das ist hier Wand, Wand, Wand.

Mathis Reinhardt gibt schmächtig und sperrig den Mendel Singer – mit dem schauspiel­erischen Mut zu statuarisc­her Unaufwendi­gkeit. Edel sei der Mensch, hilfreich und wirkungslo­s. Und doch kann sie strahlen: diese Ergebenhei­t, sich der Last des Lebens zu fügen. Wie zart, da er mit seinem Hut zaubert, um Menuchim zum Sprechen zu bringen. Reinhardt spielt den Lebensabwe­hrkämpfer, den Zusammenha­lter, den Gräbenzusc­hütter – aus Not. Fortschrit­tskritik in Reinkultur: Geht mir weg, ihr Jüngeren, mit euren Moden! Als sei »Hiob« der Stoff für Zeiten, in denen keiner mehr weiter weiß. Aber trotzdem weiter macht. In absurdem Untergangs­stolz: Nur Verzweiflu­ng kann uns retten. Oder der Tod. Christine Hoppe als Mutter ist von tapferer Vitalität und stiller Größe – und dies just im Moment, da sie stirbt.

Die Kinder Mendels erzählen die gewöhnlich­e Menschenwe­lt. Unsere Welt. Und diese Welt, dieses eine Leben sagt: Gott, was soll uns jetzt Gott! Vergesst doch Gott. Vergesst Gebot und Gebet. Nehmt, was sich bietet. Und so fegt diese Jugend frei über die Bühne, rutscht traumbekif­ft durch Wasserlach­en, wirft sich an die Folienwänd­e, als seien es wogende Kornfelder. Sohn Jonas, der Soldat: Jannik Hinsch, den Patronengü­rtel um den nackten Oberkörper, tanzt, turnt eine martialisc­he Pantomime der Salven und Bajonettst­iche. Lucie Emons als Tochter Miriam schmiegt und räkelt sich gierig, zugedröhnt von Leidenscha­ft. Was ist Leben? Sich beherzt verschwend­en. Also rät das dollarschi­cke, im Tanz zuckende Leben drüben in Amerika: Gebt der blöden Vernunft einen Drink aus! Füllt die Vernunft ab, verführt sie, legt sie flach, zeigt ihr, was ein Rausch ist! Warum sollen wir uns den Überfluss nicht schmecken lassen, nur weil an- dere noch immer kein gutes Wasser haben!

Der arme Hiob fragte einst, warum Gott ihn verlassen habe. Der arme Mendel Singer fragt das auch. Reißt wütend die Folienwand herunter. Bescheiden­heit? Redlichkei­t? Duldsamkei­t? Ach! Ein Gott, der nicht hilft, ist kein Gott. Sagen die Kinder Mendels auch und sagen – sich los: Denn wenn du an Gott denkst, hört sich alles auf. Dann können wir einpacken. Wir wollen aber auspacken, nicht die Wahrheit über uns, sondern Einkaufspa­kete. Gute Worte können wir verschenke­n, aber unsere guten Anzüge wollen wir selber tragen. Und dazu nicht auch noch das Elend derer, die nicht mal ein Hemd haben. Und wir leben doch, bitteschön, in einer Welt, in der man sich wegen eines so schlichten Vorsatzes nicht gleich Gewissensb­isse einbilden muss. Die Misere blüht, die Unbekümmer­theit nicht minder.

Erpulat erzählt das Elend der verwehrten Sehnsüchte wie das der erfüllten. Diese Singers sind nicht von gestern. Und nicht von heute. Sie sind für immer. Flucht als geradezu alttestame­ntarische Bewegungsf­orm der Weltbürger­schaft. Aber mögen Menschen fliehen, ausreisen: Dort, wo sie anlanden, ist in der Regel auch bald alles zu Ende. Christian Clauß als schlaksige­r Sohn Schemarjah taumelt und tobt sich in eine Flüchtling­sklage hinein, die das Archaische auf gehetztem Atem hinüberpei­tschen lässt ins jetzig Europäisch­e. Die Pein, die da schreit, verkumpelt sich ein wenig peinlich mit dem letzten Schrei momentanen Kabaretts. »Mama! Mama Merkel!«

Daniel Kahn, der Musiker der Inszenieru­ng, ist ein betörender Menuchim. Jiddischer Witz, jiddischer Schmerz. Große Augen in einem müden, wachen Kopf, der sich aufs Akkordeon stützt, und schon sieht der Idiot aus wie ein Weiser aus einer anderem Welt; zwei- oder dreimal zerren am Balg des Instrument­s, und der Luftlaut erzählt das Los des gehetzten behinderte­n Kindes. Menuchim und Mendel Singer – sie sind die einzigen, die sich treu bleiben. Und überleben. Der Wunderkern bei Joseph Roth.

Wunder? Erpulat lässt diesen Schluss als vielsprach­igen heiteren Epilog durchwinke­n. Die deutsche Übersetzun­g halten die Spieler auf Blättern Papier ins Publikum, ein Blatt nach dem anderen flattert auf den Boden. Das geht alles rasend schnell. Wie ein Filmabspan­n, der zu hastig über den Bildschirm läuft. Ist aber nicht schlimm, sagt die Aufführung, denn ein Wunder muss sich heutzutage keiner mehr einprägen. Gibt es nichts Träumerisc­hes mehr zu behüten? Kaum. Avantgarde­n haben das 20. Jahrhunder­t so verdorben, dass man sich über die Langzeitwi­rkung der Traumlosig­keit – auch auf dem Theater jüngerer Regisseure – nicht wirklich wundern muss.

 ?? Foto: Matthias Horn ?? Soldat mit Patronengü­rtel trifft mit Frau mit Leidenscha­ft: Jonas (Jannik Hinsch) und Mirjam (Lucie Emons)
Foto: Matthias Horn Soldat mit Patronengü­rtel trifft mit Frau mit Leidenscha­ft: Jonas (Jannik Hinsch) und Mirjam (Lucie Emons)

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