Der bessere »Neue Markt«
Zwanzig Jahre nach Beginn der Internetaktieneuphorie versucht die Börse den Neustart
Kleine Firmen haben deutliche Nachteile an der Börse. Das sollte der »Neue Markt« in den 1990ern ändern – mit katastrophalen Folgen. Der Nachfolger heißt »Scale«. Jeden Abend war Hamburgs »Tatort«Kommissar Paul Stoever auf Sendung: In flotten Fernsehspots warb der Schauspieler Manfred Krug Mitte der 1990er für den Erwerb der Aktien der Bundespost, nun Telekom. Über 700 Millionen »T-Aktien« wurden verkauft, jede zweite an Kleinanleger. Mehr als drei Millionen Steinsetzer, Sozialarbeiterinnen und Staatsbeamte – bis dato als Aktienmuffel gerühmt – hatten sich beworben.
Ende der 1990er näherte sich die Gier nach leichten Gewinnen an der Börse ihrem Höhepunkt. In diesem Klima gedieh die Spekulation. Am 10. März 1997 öffnete der »Neue Markt«, ein neues Segment an der Frankfurter Börse. Es sei der »erste und wichtigste Markt für Hochtechnologieaktien in Europa«, schrieb die Bundes- bank später. Eine Art »natürliches Experiment«, bei dem alle Regeln aufgehoben schienen.
Der Neue Markt wurde zu einer rasanten Erfolgsgeschichte. 339 Unternehmen platzierten Aktien. Gestartet war das neue Segment mit dem Mobilfunkanbieter Mobilcom und dem Ingenieursdienstleister Bertrandt noch vergleichsweise solide. Ein halbes Jahr später hatte sich der »Nemax« verdoppelt. Kursgewinne erschienen als Selbstgänger. Bis zum Allzeithoch im März 2000 legten die Kurse um sagenhafte 1682 Prozent zu. Doch schon sechs Jahre nach dem Start schloss die Börse für immer.
»Eine Übertreibung, ohne Frage«, heißt es beim Deutschen Aktieninstitut (DAI). Und ein Traum für leichtlebige Zocker, für Eigentümer, die ihre Firmen – die oft nur aus drei, vier Leuten und einer Geschäftsidee bestanden – für Millionenwerte an die Börse brachten. Doch anders als versprochen wurden die Millionen nicht investiert, sondern »zur Erzielung privater Vorteile eingesetzt«, kritisierte die Bundesbank später schamhaft.
In der Öffentlichkeit bestimmten die »Neuen Industrien« dennoch jahrelang die Diskussionen. Mit der virtuellen Internetökonomie schien ein krisenfester Zyklus auch auf den Finanzmärkten zu beginnen. »Alte Industrien« wie Auto, Chemie oder Maschinenbau wurden abgeschrieben. Zur Hochzeit waren die Neuer-MarktUnternehmen, inzwischen sind die meisten längst Geschichte, absurde 250 Milliarden Euro wert. Endgültig als »Zockermarkt« in Verruf kam die Börse, als aufgeblasene Bilanzen, krimineller Insiderhandel und Kursbetrug aufflogen: Das Münchner Unternehmen Comroad hatte sogar fast seine gesamten Umsätze erfunden.
Heute wird man in der Deutschen Börse, deren Fusionspläne mit London wohl gerade geplatzt sind, ungern daran erinnert. Mit »Scale« startet sie dennoch einen neuen Versuch. Der umstrittene Börsen-Boss Carsten Kengeter eröffnete den neuen Markt Anfang März. »›Scale‹ bietet mittelständischen Unternehmen einen attraktiven Zugang zum Kapitalmarkt.« Das sei gut für »unser Land und un- sere Wirtschaft«. Das stimmt insofern, als deutsche Firmen im Unterschied zu US-amerikanischen vorrangig auf Kredite angewiesen sind. Und die sind kostspieliger als die Kapitalbeschaffung durch einen Börsengang.
»Scale« löst den »Entry Standard« ab, der Mindestanforderungen an gelistete Firmen regelte, aber jüngst durch Pleiten und Gaunereien in Verruf geraten war. Bei »Scale« gelten deutlich strengere Zulassungsvoraussetzungen. Das neue Segment umfasst zunächst 37 Aktiengesellschaften. Manche sind »Pfennigaktien« wie die Beteiligungsgesellschaft MIC, andere waren schon im »Neuen Markt« dabei, etwa der Softwareentwickler Mensch und Maschine.
Wie in den 1990ern haben die Aktienkurse einen rasanten Aufstieg hinter sich. Wer vor einem Jahrzehnt zehn Millionen Euro in DAX-Aktien angelegt hatte, darf sich über 30 Millionen Euro freuen. Träume werden immer noch wahr. Nur nicht die von Kleinanlegern: Telekom-Aktien kosteten seinerzeit teils über 60 Euro – 50 Euro mehr als heute.