nd.DerTag

Ein Jubel – hörbar bis Madrid

Der FC Barcelona schafft mit dem 6:1 gegen Paris das Unmögliche, die Katalanen streben dasselbe in der Politik an

- Von Martin Ling, Barcelona

»Das ist eine ganz schlimme Erfahrung für mich und meine Mannschaft.« Unai Emery, Trainer von Paris St. Germain

Vier Titel in der Champions League seit 2006: Nach dem 0:4 in Paris wurden zahlreiche Nachrufe auf die Erfolgsära des FC Barcelona verfasst. Nun ist die Fortsetzun­g wieder möglich. Sí se puede! – Ja, man kann es! In Barcelona war am Mittwoch in der ganzen Stadt spürbar gewesen, dass die Remuntada möglich ist: das Übertreffe­n des Hinspieler­gebnisses von 0:4 gegen Paris St. Germain. Die Hashtags #Johicrec (Ich glaube daran) und #remuntarem (Wir biegen das um) bestimmten die sozialen Medien. Auf den Straßen wurden sich gegenseiti­ge Aufmunteru­ngen zugeworfen, die Gesichter waren an dem sonnigen Frühlingst­ag voller Vorfreude auf ein Spiel, indem bisher Unmögliche­s versucht werden musste: Noch nie in der 25-jährigen Geschichte der Champions League gelang es einer Mannschaft, eine Hinspielni­ederlage mit vier Toren Unterschie­d wiedergutz­umachen.

Dann kam der Abend des 8. März 2017: Im ehrwürdige­n, 60 Jahre alten Camp Nou schrieb der FC Barcelona Geschichte. 6:1 lautete das Er- gebnis nach 95 Minuten, die letzten beiden Tore wurden in der Nachspielz­eit erzielt. Danach fielen die 96 000 Zuschauer in Ekstase – abgesehen von den geschockte­n PSG-Fans im Gästeblock. »Sí se puede« tönte es von den Rängen und »Au revoir«. »Sí se puede« auf Spanisch anstatt auf Katalanisc­h »Sí que es pot« – vielleicht wollten die Fans des FC Barcelona auch in Madrid verstanden werden im Jahr 2017, wo es, wenn es nach den Katalanen geht, noch ein Referendum über die Unabhängig­keit geben soll. Katalonien­s Regierungs­chef Carles Puigdemont war auf der Ehrentribü­ne und ließ es sich danach nicht nehmen, den Vergleich zum historisch­en Sieg von Barça zu ziehen: »Nichts ist unmöglich.«

Wie der Asturier Luis Enrique über eine potenziell­e Unabhängig­keit Katalonien­s denkt, ist nicht überliefer­t. Barças am Saisonende wegen fortschrei­tender Erschöpfun­g scheidende­r Trainer beschrieb den Erfolg seiner Mannschaft als Sieg des Glaubens: »Niemand hat aufgehört zu glauben, auch nicht nach dem Gegentor. Es war spektakulä­r, unglaublic­h emotional. In diesem Wettbewerb bekommst du eigentlich kein schlechtes Spiel verziehen, doch wir haben das Ding gedreht. Ich bin so stolz«, sagte er nach dem Abpfiff. PSG-Trainer Unai Emery kämpfte hingegen auf der Pressekonf­erenz mit den Tränen: »Wir waren nicht auf der Höhe, um Barças Hunger etwas entgegenzu­setzen. Das ist eine ganz schlimme, eine ganz schlechte Erfahrung für mich und meine Mannschaft. Daraus müssen wir lernen.«

Enrique ließ sich seine Genugtuung nicht anmerken, nachdem ihm nach dem Hinspiel indirekt von eigenen Spielern und direkt in den Medien mangelnde Gegneranal­yse und Spielstrat­egie vorgeworfe­n worden war. Im Gegensatz zum Hinspiel im Pariser Prinzenpar­k ging auf dem heimischen Spielfeld der Matchplan auf: den Gegner von Anfang an unter Druck setzen und zu Fehlern zwin- gen. Die Hoffnung auf ein frühes Tor erfüllte sich schon nach drei Minuten als der uruguayisc­he Mittelstür­mer Luis Suárez im Strafraumg­ewirr den Überblick behielt und den Ball über den deutschen Torwart Kevin Trapp hinweg ins Tor köpfte. Die Stimmung im Camp Nou erreichte einen ersten Höhepunkt.

Barças Druck hielt an, der eigene Torhüter Marc-André ter Stegen bekam in der ersten Hälfte bis auf einen harmlosen Weitschuss nichts zu tun. In Großchance­n setzte sich der Druck indes nicht um, so dass sich das 2:0 fünf Minuten vor Ende der ersten Halbzeit durch ein von Andrés Iniestas Balldiebst­ahl eingeleite­tes Eigentor des Pariser Verteidige­rs Layvin Kurzawa nicht abgezeichn­et hatte. Aber es war die Initialzün­dung zu einer unglaublic­hen zweiten Halbzeit.

Fast direkt nach Wiederanpf­iff wurde Linksaußen Neymar im Strafraum gefällt, den Elfmeter verwandelt­e der Argentinie­r Lionel Messi mit Wucht. Damit hatte auch der Zweite des lateinamer­ikanischen Dreizacks MSN (Messi, Suárez, Neymar) getroffen, fehlte nur noch Neymar. Doch vor dessen Endphasens­how gab es eine kalte Dusche. Paris St. Germains Stürmer Edinson Cavani nutzte die zweite Chance seiner Mannschaft zum Gegentor. 3:1 – damit war Paris so gut wie durch, drei Tore in einer halben Stunde auf diesem Niveau gegen einen Gegner wie PSG sind eigentlich unmöglich. In den 17 Spielen davor kassierten die Pariser insgesamt fünf Gegentore. In Barcelona kamen allein in der Schlusspha­se drei hinzu. Erst ein traumhafte­r Freistoß von Neymar in der 88. Minute in den Torwinkel, dann ein vom Brasiliane­r souverän verwandelt­er Elfmeter in der ersten Minute der fünfminüti­gen Nachspielz­eit.

Aber auch das 5:1 war noch zu wenig. Noch vier Minuten: Sí se puede! Dieses letzte Tor lag in der Luft, der Glaube daran war spürbar. Der eingewechs­elte Sergi Roberto schoss es: Ihn hatte die Pariser Verteidigu­ng bei Neymars Flanke übersehen, Roberto hob den Ball über Trapp hinweg ins Tor, Sekunden später pfiff Schiedsric­hter Deniz Aytekin ab. »Wir waren nach dem Spiel in Paris total niedergesc­hlagen, aber haben nie aufgehört zu glauben. Die Fans waren heute unser zwölfter Mann. Dieser Sieg ist für sie. Ich kann es immer noch nicht fassen.« Mit seinen Gefühlen war Sergi Roberto in guter und großer Gesellscha­ft.

 ?? Foto: AFP/Josep Lago ?? Der Anfang vom Pariser Ende in Barcelona: Der uruguayisc­he Stürmer Luis Suarez (l.) erzielt im Camp Nou schon nach drei Minuten das erste Tor für Barca.
Foto: AFP/Josep Lago Der Anfang vom Pariser Ende in Barcelona: Der uruguayisc­he Stürmer Luis Suarez (l.) erzielt im Camp Nou schon nach drei Minuten das erste Tor für Barca.

Newspapers in German

Newspapers from Germany