Langsamer Ausstieg
Japans Atomindustrie liegt am Boden, ob sie noch mal aufstehen kann, ist ungewiss
Sechs Jahre nach der Atomkatastrophe von Fukushima ist die Energiebranche in Japan offiziell kuriert. Tatsächlich wackelt sie gewaltig, weil überall die Kosten steigen. Seit Jahren strecken jeden Freitag Demonstranten vorm Büro des Premierministers Shinzo Abe Schilder in die Luft: »Lebe wohl, Kernkraft!«, »Gegen das Atom!«, »Abe raus!« Dass in Japan dennoch weiterhin auf diese Weise Strom generiert wird, könnte als die ultimative Niederlage des Volkes gelten, schließlich stellt sich seit der Atomkatastrophe von Fukushima mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen die Kernkraft. Und dennoch wirkt auch der vermeintliche Sieger – die japanische Atomindustrie – ziemlich niedergeschlagen: Da ist ein mit Steuermitteln am Leben gehaltener Stromversorger, ein aufs Abstellgleis manövrierter Forschungsreaktor, und ein Reaktorbauer, der öffentlich über einen Rückzug nachdenkt. Es könnte rosiger aussehen für Japans doch so mächtige Atombranche.
Sechs Jahre sind vergangen, seit am 11. März 2011 vor Japans Nordostküste zuerst die Erde mit der Stärke von 9,0 auf der Richterskala bebte und dann bis zu gut 20 Meter hohe Wellen über das Ufer hereinbrachen. Knapp 20 000 Menschen starben, 300 000 mussten an den Tagen und Wochen danach evakuiert werden. Denn durch Erdbeben und Tsunami havarierte in der Präfektur Fukushima das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi. In drei der sechs Reaktoren fand eine Kernschmelze statt, in einem vierten wäre dasselbe passiert, hätte er sich nicht gerade in der Wartung befunden. Es ist die größte Natur- und Technologiekatastrophe, die Japan je erlebte. Und weil das volle Ausmaß noch immer nicht bekannt ist, sagen viele, dass das Unglück längst nicht überstanden ist.
Auf den Schrecken und die Orientierungslosigkeit, die die Katastrophe in der Gesellschaft verursachte, antwortete die eineinhalb Jahre später neugewählte Regierung zunächst mit Gewissheiten: Premierminister Abe und seine rechtskonservative Liberaldemokratische Partei versprachen neues Wirtschaftswachstum durch hohe Staatsausgaben, lockere Geldpolitik, Strukturreformen – und billige Energie in Form von Atomkraft. Angesichts des Schadens, den diese in einer ganzen Region angerichtet hatte, war das keine beliebte Botschaft. Abe aber, der ansonsten nicht selten zu populistischen Haltungen neigt, blieb hart: Die Kernkraft sei alternativlos.
Aus kurz- und mittelfristiger Perspektive schien das sogar Sinn zu ergeben: Nachdem die Demokratische Partei vor ihrer Wahlniederlage Ende 2012 alle 54 Atomreaktoren vom Netz genommen hatte, musste das Land plötzlich ein Viertel seines Energiemixes importieren. Größtenteils kauften die Stromversorger Flüssiggas aus dem Mittleren Osten, so dass die Strompreise in die Höhe schossen und Japan in ein Handelsdefizit rutschte. Zudem war eine Prämisse der Wachstumspolitik von Abe, die neue Investitionen provozieren und dadurch einen positiven Effekt auf das Lohnniveau hervorrufen sollte, möglichst billiger Treibstoff. Und da Japan die Förderung erneuerbarer Energien über Jahrzehnte vernachlässigt hatte, war dies auf die Schnelle nur mit den schon vorhandenen Atomreaktoren machbar.
Im Sommer 2015 fuhr im Südwesten des Landes der erste Reaktor wieder hoch, mittlerweile befinden sich mehrere im Prüfverfahren der Aufsichtsbehörden, um wieder Kernspaltungen vornehmen zu dürfen. Es ist sogar ein neues Kraftwerk in Bau, das zwar schon vor der Katastrophe begonnen, dann aber auf Eis gelegt worden war. So sieht es zunächst nach einem Sieg des gut vernetzten »Atomaren Dorfs« aus, wie in Japan die Allianz aus überwiegend konservativen Politikeliten sowie Atomprofiteuren aus Wirtschaft und Wissenschaft genannt wird. »Das ›Atomare Dorf‹ ist zu groß zum Scheitern« und sei finanziell und politisch zu gut vernetzt, urteilte Jeff Kingston, Politikprofessor an der renommierten Temple Universität in Tokio, noch im Sommer 2014.
Und doch mehren sich die Zeichen, dass die Atomenergie in Japan, wenn nicht am Ende, dann doch zumindest am Boden ist. Dabei geht es nicht nur um Tepco, den größten Stromversorger des Landes und Be- treiber des havarierten Atomkraftwerks Fukushima Daiichi, der nur durch Steuermittel und eine Verstaatlichung künstlich am Leben gehalten werden konnte. Der Multikonzern Toshiba, einer der größten Reaktorbauer der Welt, der auch die Hälfte der in Japan stehenden Blöcke errichtet hat, musste zuletzt Abschreibungen von sechs Milliarden US-Dollar vornehmen. Der Grund war die Atombranche, die für Toshiba ein Drittel der Umsätze ausmacht, sich zuletzt aber als teurer als erhofft herausstellte. Nun wird in der Chefetage über einen Atomausstieg nachgedacht.
Und Ende des Jahres beschloss die Regierung auch, den prestigereichen Forschungsreaktor Monju auszurangieren. Als der Schnelle Brüter vor 22 Jahren an der Westküste ans Netz ging, sollte er den Weg in die Zukunft weisen, letztlich sollte durch effizienten Umgang mit atomaren Ab- fallprodukten ein geschlossener nuklearen Brennstoffkreislauf gelingen. Aber der Reaktor machte immer wieder Probleme, hat die Steuerzahler bis jetzt rund neun Milliarden Euro gekostet. Zwar will Japan in Kooperation mit Frankreich weiter an der Idee forschen. Aber das Vorhaben ist wackliger als je zuvor. Hinzu kommt die maximale Laufzeit von Atomreaktoren, die 40 Jahre beträgt. Wenn also nicht laufend neu gebaut oder aufgerüstet wird, ist die Atomkraft irgendwann automatisch ein Ding der Vergangenheit.
»Angesichts der aktuellen Stimmung ist es wohl schwierig, noch neue Reaktoren zu bauen«, sagte Nobuo Tanaka, ehemaliger Chef der Internationalen Energieagentur in Paris, vor einem guten Jahr. Die Stimmung hat sich nicht groß geändert. So könnte es sein, dass Japan doch einen Rückzug aus der Atomkraft vollzieht. Langsam, leise, aber vielleicht sicher.