Die Staatstodfeinde für Nachgeborene
Anne Ameri-Siemens bietet »jungen Lesern« einen gelungenen Einstieg in die Geschichte des linken Terrorismus in der BRD
Es ist das meiste gesagt zum »Deutschen Herbst« 1977 – aber noch nicht zu allen: Dieses Motto lässt sich dem soeben erschienenen Buch »Ein Tag im Herbst« von Anne Ameri-Siemens voranstellen. Es will die Vorgänge um die Ermordung des Generalbundesanwalts Siegfried Buback, die Entführung und Ermordung des damaligen Arbeitgeberchefs Hanns-Martin Schleyer durch ein »Kommando« der RAF, die todbringende Entführung des Lufthansa-Jets »Landshut« und seine Erstürmung in Mogadischu sowie die subsequente »Todesnacht« von Stammheim für – wie es beim Verlag heißt – »junge Leser« erzählen.
Das ist in der Tat vonnöten. Denn der »Deutsche Herbst« hat sich zwar, wie schon der Werbetext zum Buch formuliert, »in das kollektive Gedächtnis gebrannt«. Doch gilt das nur für eine bestimmte Alters- und geografische Kohorte: Schon die Generation der Autorin – westdeutsch, 1974 geboren – hat keine konkreten Erinnerungen mehr an 1977, kann aber immerhin noch die bedrückende Gefühlswelt jener Jahre des RAFTerrors erspüren, die den allgegenwärtigen Fahndungsplakaten anhaftete oder in bestimmten Sprüchen saß. Doch schon die nach 1980 Geborenen haben kaum noch Verbindungen zum Geschehen um die RAF. Zu »gelernten Ostdeutschen« ist dieser Komplex ohnehin nie in voller Brisanz durchgedrungen – auch nicht durch den Mord am Deutsche-BankChef Alfred Herrhausen im Herbst 1989, denn da waren sie mit ganz anderen Fragen beschäftigt. Und um 2000 geborene »junge Leser« von heute assoziieren mit »Terror« den 11. September 2001, den syrischen Vielfrontenkrieg oder den NSU.
Was Ameri-Siemens diesen jungen Lesern vermittelt und erzählen lässt – eine Stärke des Buches ist sein Lesebuch-Charakter, immer wieder kommen Zeitzeugen aus Politik, Medien und aus den Familien der Opfer in langen O-Ton-Passagen zu Wort –, ist eine Antwort auf die Frage, was dieser düstere Thriller-Plot aus der alten BRD denn bitte mit ihnen zu tun habe.
Da geht es einmal um grundlegende moralische Dilemmata. Distanziere ich mich in der Stunde von der Verfolgung von einstigen Gefährten, deren Weg ich nun verurteilen muss? Trage ich zu deren Inhaftierung bei? Auf der anderen Sei- te: Rettet man das Leben eines Entführten – oder ist es wichtiger, keine weiteren Präzedenzen für politisches Kidnapping zu schaffen? Die Ratlosigkeit und das Hin-und-herGerissensein, das bis heute aus den von Ameri-Siemens versammelten Zeugnissen spricht, adressieren die- se Frage viel wertvoller, weil unentschiedener als etwa jüngst das Voting-Drama »Terror – Ihr Urteil« um einen fiktiven Kampfpiloten, der eine Passagiermaschine abschießt, um einen Anschlag auf ein Stadion abzuwenden.
Das Buch erklärt aber auch die politische Hinterlassenschaft des »Deutschen Herbstes« und der RAF – etwa die Formierung eines wehrhaften Staates, der im Konflikt mit der RAF den Konflikt zwischen Freiheit und Sicherheit für sich langfristig beantwortete und auf die Zustimmung einer der großen Mehrheit traf. Es ergeben sich Einsichten in das dynamische Verhältnis von Zuschreibung und Erfüllung einer Position, die durchaus an heutige Mechanismen der »Radikalisierung« erinnern: Wer damals etwa wegen eines Vollbarts als als Linksradikaler identifiziert und bevorzugt mit gezogener Waffe kontrolliert wurde, erspürte wohl einen ähnlich widersprüchlichen Impuls aus »Ich habe Angst« und »Jetzt erst recht« wie vielleicht heutige Träger voller Gesichtsbehaa- rung, die des Islamismus verdächtigt werden.
Gelungen ist das Buch auch insofern, als es die Nachgeborenen auf die bis heute offenen Fragen von 1977 stößt, etwa auf die nach der möglichen Verwanzung der Stammheimer Zellen. War der Sicherheitsapparat vor und während der »Todesnacht« im Bilde über den Selbstmordplan der dort inhaftierten »ersten Generation«? Wo sind dann die Bänder? Ließ man die Staatstodfeinde am Ende gar erleichtert gewähren?
Diejenigen »jungen Leser«, die bis an diese Stelle des Buches vorstoßen, werden von jenem den Älteren so vertrauten RAF-Grusel gefangen sein. Und vielleicht eine Bibliothek aufsuchen, um sich mit der so nahen und zugleich so fernen Zeitgeschichte der wilden Jahre der Bundesrepublik vertrauter machen. Und dies ist allemal zu wünschen.
Es ist das meiste gesagt zum »Deutschen Herbst« 1977 – aber noch nicht zu allen.
Anne Ameri-Siemens: Ein Tag im Herbst. Die RAF, der Staat und der Fall Schleyer. Rowohlt Berlin, 320 S., geb., 19,95 €.