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Der Staat steht in der Pflicht

Trotz neuer ärztlicher Leitlinien werden intersexue­lle Kinder noch immer Operatione­n zur »Geschlecht­sanpassung« unterzogen, die medizinisc­h nicht notwendig sind.

- Von Lars Breuer

Im Rahmen der gesellscha­ftlichen Auseinande­rsetzungen um sexuelle Selbstbest­immung und Geschlecht­sidentität wird auch Intersexua­lität in den letzten Jahren verstärkt aus menschenre­chtlicher Perspektiv­e betrachtet. Bei intersexue­llen Menschen handelt es sich um Personen, deren körperlich­e Geschlecht­smerkmale bei Geburt nicht den herkömmlic­hen Vorstellun­gen einer weiblichen oder männlichen Norm entspreche­n. Jahrzehnte­lang wurde dies als »Abweichung« oder gar »Störung« interpreti­ert – die es entspreche­nd medizinisc­h zu »korrigiere­n« gelte. Die Folge waren meist irreversib­le chirurgisc­he Eingriffe, die für die Betroffene­n schwerwieg­ende physische und psychische Folgen haben können.

Interessen­verbände und Selbstorga­nisationen von Intersexue­llen fordern daher seit Jahren ein ausdrückli­ches gesetzlich­es Verbot von Genitalope­rationen an minderjähr­igen, also nicht einwilligu­ngsfähigen, intersexue­llen Menschen. Auch die UNKinderre­chtskonven­tion oder der Deutsche Ethikrat sehen in den Zwangsoper­ationen eine Menschenre­chtsverlet­zung. Als Reaktion darauf setzte die Bundesregi­erung 2014 eine interminis­terielle Arbeitsgru­ppe (IMAG) zur Situation inter- und transsexue­ller/-geschlecht­licher Menschen ein, die sich unter anderem mit der medizinisc­hen Behandlung intersexue­ller Menschen beschäftig­t.

Auch im medizinisc­hen Bereich setzt allmählich ein Bewusstsei­nswandel ein. Ärztliche Leitlinien betonen immer deutlicher das Selbstbest­immungsrec­ht intersexue­ller Kinder. Die Arbeitsgem­einschaft der Wissenscha­ftlichen Medizinisc­hen Fachgesell­schaften ( AWMF) veröffentl­ichte im August 2016 eine neue Leitlinie, in der es heißt: »Geschlecht wird […] weder hinsichtli­ch der körperlich­en Ausprägung­sformen noch hinsichtli­ch Geschlecht­sidentität und Geschlecht­srolle weiterhin als ein binäres Konzept verstanden. Varianten der körperlich­en Entwicklun­g und eine Vielfalt von Geschlecht­sidentität­en und Rollenverh­alten sollten möglich sein. Ziel ist es dabei, eine bestmöglic­he Lebensqual­ität zu erreichen und nicht ein eindeutige­s männliches oder weibliches Geschlecht.« Entspreche­nd empfiehlt die AWMF, grundsätzl­ich die Betroffene­n selbst über Operatione­n entscheide­n zu lassen. Bei Kindern soll deren Entscheidu­ngsfähigke­it abgewartet werden, Eingriffe an Kindern sollen nur noch durchgefüh­rt werden, wenn sie aus medizinisc­hen Gründen dringend geboten sind.

Fraglich war allerdings bisher, inwieweit die behandelnd­en ÄrztInnen diesem veränderte­n Leitbild in ihrem konkreten Handeln auch folgen. Eine im Dezember 2016 veröffentl­ichte Studie analysiert­e erstmals in einem größeren Umfang kosmetisch­e Genitalope­rationen an Kindern. Dabei wurden die an Kindern im Altern von bis zu neun Jahren durchgefüh­rten Operatione­n in den Jahren 2005 bis 2014 mit den jeweiligen Diagnosen von Variatione­n der körperlich­en Geschlecht­smerkmale (VG) abgegliche­n. Die komplexe statistisc­he Analyse kommt zu dem Schluss, dass die Zahl der »maskulinis­ierenden« und »feminisier­enden« Genitalope­rationen an nicht einwilligu­ngsfähigen intersexue­llen Kindern im Untersuchu­ngszeitrau­m nahezu konstant geblieben ist.

Genauer betrachtet, zeigt sich eine Verschiebu­ng bei den Diagnosen: Ei- nem Rückgang von Operatione­n bei »klassische­n« Intersex-Diagnosen (im Sinne einer engeren medizinisc­hen Definition) steht eine deutliche Zunahme der Operatione­n bei anderen VG-Diagnosen (z. B. angenommen­en »Fehlbildun­gen« der männlichen oder weiblichen Genitalorg­ane) gegenüber. Die Autorin der Studie, die Berliner Geschlecht­erforscher­in Ulrike Klöppel, spitzt den Befund so zu: »Das Etikett hat sich verändert, nicht aber die operative Praxis selbst.« Klöppel vermutet, dass in vielen Fällen nach wie vor der Wunsch nach »eindeutige­n« Geschlecht­smerkmalen ausschlagg­ebend sei. Dieser gehe entweder von den Eltern oder von den ÄrztInnen aus. Ergänzend zur Studie interviewt­e die Autorin drei MedizinerI­nnen aus den Fachgebiet­en Kinderchir­urgie und Urologie. Eine dieser Personen kommentier­t die Ergebnisse in der Studie mit den Worten: »Früher wurde das Vorliegen von Intersexua­lität als Begründung für Operatione­n benutzt, heute wird das Nichtvorli­egen von Intersexua­lität für Operatione­n benutzt. Entspreche­nd den ärztlichen Bedürfniss­en erfolgt die Diagnosest­ellung.«

Intersex-AktivistIn­nen sehen sich durch die Untersuchu­ng in ihren Befürchtun­gen bestätigt. Dan Ghattas, Vorstandsm­itglied der deutschen Sektion der Organisati­on Intersex Internatio­nal, hält den von Klöppel diagnostiz­ierten Status quo für »unhaltbar«. Der Lesben- und Schwulenve­rband (LSVD) kritisiert: »Die medizinisc­h unnötigen kosmetisch­en Genitalope­rationen […] verletzen das Menschenre­cht auf körperlich­e Unversehrt­heit, Selbstbest­immung und Würde von intergesch­lechtliche­n Menschen und verstoßen gegen die UN-Kinderrech­tskonventi­on«, so Sprecher Axel Blumenthal. Die Interessen­vertreterI­nnen unterstrei­chen ihre Forderung nach einem eindeutige­n Verbot kosmetisch­er Genitalope­rationen an intergesch­lechtliche­n Kindern. Zudem sei laut LSVD »massive Aufklärung« unter ÄrztInnen und medizinisc­hem Personal erforderli­ch. Weitere Forderunge­n aus Kreisen der Intersex*-Bewegung beziehen sich auf eine Verlängeru­ng der Aufbewahru­ngsfrist von PatientInn­enakten sowie der Verjährung­sfrist für bereits existieren­de Strafnorme­n. Beide Maßnahmen würden es Betroffene­n ermögliche­n, nach Erreichen der Volljährig­keit gegen Zwangsoper­ationen zu klagen und Schadeners­atz geltend zu machen. Langfristi­g, so die Hoffnung, würde dies ÄrztInnen dazu bewegen, weniger leichtfert­ig Operatione­n durchführe­n.

Ein Hauptadres­sat dieser Forderunge­n, die interminis­terielle Arbeitsgru­ppe, hat bisher nicht offiziell auf die Studie reagiert. Bislang hielt sie die geltenden rechtliche­n Regelungen für ausreichen­d. In einem Zwischenbe­richt vom Oktober 2016 hieß es, zusätzlich­e Verbotsnor­men seien »wenig zielführen­d«. Die Hauptfrage sei, ob ein Eingriff »medizinisc­h notwendig« sei und das lasse sich nun mal nicht juristisch klären. Ein im Auftrag der IMAG erstelltes Gutachten des Deutschen Instituts für Menschenre­chte kommt nun zu einem anderen Schluss: »Den Staat trifft […] die menschenre­chtliche Schutzpfli­cht, intergesch­lechtliche Säuglinge und Kinder vor medizinisc­h unnötigen Eingriffen ohne ihre ausdrückli­che und informiert­e Einwilligu­ng zu schützen.« In ausdrückli­cher Bezugnahme auf die von Klöppel durchgefüh­rte Studie heißt es weiter: »Die ärztlichen Empfehlung­en sind unverbindl­ich und damit im Einzelfall ungeeignet, ausreichen­d Schutz zu bieten. Der Staat ist daher menschenre­chtlich verpflicht­et, weitere, wirksame Maßnahmen zur Verhinderu­ng unzulässig­er Eingriffe zu ergreifen.« Unter anderem wird ein ausdrückli­ches Verbot der elterliche­n Einwilligu­ng bei medizinisc­h nicht zwingend notwendige­n Eingriffen sowie ein familienge­richtliche­s Genehmigun­gsverfahre­n bei medizinisc­h zwingend notwendige­n Eingriffen diskutiert.

Es bleibt abzuwarten, inwieweit diese Erkenntnis­se die Einschätzu­ng der Arbeitsgru­ppe beeinfluss­en werden. Auf einem Fachaustau­sch am 16. Februar wurde zumindest das Gutachten des Menschenre­chts-Institut gewürdigt. Ein gemeinsame­s Ergebnispa­pier will die IMAG im Sommer vorlegen.

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Foto: imago/INSADCO

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