Denkbeamte am Puls der Zeit
Bundesweit ärgern sich Germanisten darüber, dass der »Spiegel« ihren Berufsstand in den Schmutz gezogen hat. Dabei denkt es in ihnen nicht anders als in der Wochenillustrierten.
Alles da, was man braucht in der Bürostube des Denkbeamtentums: Kommunikationsarbeiterfähnchen, Workshop-Locher, Existenzgründungsantragsklämmerchen
Wenn das Genre der Universitätssatire heute brachliegt, so auch deshalb, weil die Wirklichkeit die Satiriker arbeitslos macht. Wenn Geisteswissenschaftler vor der Presse ihr Portfolio auspacken, klingt das jedenfalls nicht selten wie die Bewerbung um einen Redaktionsposten bei der »Titanic«: »Ich habe gerade ein Forschungsprojekt zu gegenwärtiger Ästhetik beantragt, in dem eine Untersektion auch die Kommunikation in sozialen Netzwerken behandelt. Dabei geht es unter anderem darum, ob Twitter-Kommunikation notwendigerweise zu Trump führt«, teilt der Frankfurter Germanist Heinz Drügh mit, der »eine wissenschaftliche PopZeitschrift« herausgibt und »ein Buch über die Ästhetik des Supermarkts« geschrieben hat. »In der Arbeit mit großen Textkorpora tauchen literaturhistorische Kontinente auf, die der genauen Lektüre wert sind«, hat der Berliner Literaturwissenschaftler Steffen Martus bei seiner Erkundung der »Digital Humanities« herausgefunden. Und der Konstanzer Germanist Albrecht Koschorke schätzt an seinem Berliner Kollegen Joseph Vogl, dass der »sich sehr viel Gedanken macht über den Kapitalismus und die imaginativen Strukturen, die ihm zugrunde liegen«. In die imaginativen Strukturen des Kapitalismus taucht auch Koschorke gern ab: »Ich arbeite sehr stark über politische Narrative. Ich bin jetzt gerade dabei, mir über den Populismus Gedanken zu machen, mich dazu öffentlich zu äußern. Das ist ja eine Sache, die etwas mit der Handhabung von Sprache und von Erzählungen von politischen Mythen zu tun hat.«
Ob nun der Populismus, die Gedanken oder die öffentlichen Äußerungen darüber etwas mit der Handhabung von Erzählungen von politi- schen Mythen zu tun haben, vermag nicht so genau zu sagen, wer in den Gängen des Supermarkts bei der Arbeit über politische Narrative zwischen großen Korpora lesenswerte Kontinente auftauchen sieht. Doch die Germanisten, die so reden und schreiben, haben für ihre Ausfallerscheinungen eine Entschuldigung. Antworteten sie doch auf eine Schimpfrede gegen ihr Fach, die der Journalist Martin Doerry im Februar unter dem Titel »Wer war Goethe? – Keine Ahnung, irgendso’n Toter« im »Spiegel« veröffentlicht hat. Doerry, der schon allein dadurch, dass er selbst Germanistik studiert hat, zu tiefgreifenden Zweifeln am Sinn der Disziplin berechtigt, trägt in seinem Artikel Äußerungen von Studenten (»Schiller war Komponist«) zusammen, um zu beweisen, dass das Fach sich überlebt habe und zu einer Spielwiese verschwurbelter Pseudointellektueller geworden sei, denen kein Kanon heilig und kein Forschungsgebiet zu abseitig ist.
Doerrys Abrechnung zielte freilich nicht darauf, dass die Philologie in eine Disziplin verwandelt werden möge, die der Liebe zum Wort treu wäre und den nuancierten sprachlichen Ausdruck lehren würde. Im Gegenteil bedient er sich – ein Musterbeispiel für jenen Populismus, den Akademiker lieber in der US-amerikanischen Politik als in den deutschen Medien suchen – tumber Äußerungen junger Menschen nur als Beweis dafür, dass das Fach den Leuten von heute nichts zu bieten habe. Insofern sind die Reaktionen der Germanisten, die in Folge von Doerrys Text die Feuilletonseiten anderer Blätter vollgeschrieben haben, konsequent. Ihr Tenor besteht darin, sich keinesfalls unterstellen lassen zu wollen, von gestern zu sein. Zu diesem Zweck schreiben sie die Sprache von heute, die auch Doerrys ist: das universale Dummdeutsch, in dem es längst auch in germanistischen Symposien, die heute »Workshops« heißen, von jedem Podium respektive Panel plappert.
Doerry ist sich mit denjenigen, die ihm nach seinen Ausfällen beweisen wollten, dass sie anders sind, als er sie sich vorstellt, darin einig, dass die Germanistik geistig entschlackt werden muss, wenn sie »zukunftsfähig« sein will. Mit den jungen Menschen, die nicht mehr wissen, wer Goethe und Schiller sind, und die sich darüber beklagen, dass sie nach dem Abitur zwar Gedichte interpretieren, aber keine Steuererklärung ausfüllen können, sympathisiert er, indem er sie vorführt. Er braucht ihre Dummheit, um mittels ihrer die Norm zu statuieren, an der das Fach sich messen lassen soll: als schöngeistige Kompetenzvermittlungsagentur für Kommunikationsarbeiter, die mit beiden Beinen im Leben stehen, Zitate der Klassiker vor allem für das Assessment-Center brauchen, die Universität als im Speedreading geschulte Freischreiber verlassen und von den Details altphilologischer Textentzifferung so wenig wissen wollen wie von den Nuancen der Hermeneutikkritik.
Umgekehrt haben die Fachvertreter in ihren Antworten an Doerry bewiesen, dass sie so fantasielos und weltzugewandt sind, wie er sie sich wünscht: immer dran an den politischen Narrativen, ständig warnend vor Dingen, vor denen alle warnen, dabei aber zuverlässig offen gegenüber kulturindustriellem Schund. Mit Stefan George werden sie ebenso fertig wie mit Frauke Petry, rassistische Diskurse bei Immanuel Kant identifizieren sie so zielsicher wie Bibelzitate bei Bob Dylan, und über die narrative Struktur von »The Wire« können sie so lange Monologe halten wie über Hegels strukturellen Sexismus. Vor nichts haben sie mehr Angst als davor, nichts zur Gegenwart sagen zu können.
Dabei gehörte zu den Vorteilen der Disziplin, die früher meist Deutsche Philologie hieß, gerade die Möglichkeit, vom Druck der Tagesaktualität entlastet zu werden und durch die reflektierte Erfahrung einer anderen, in den Werken der Literatur sedimentierten Zeit den Blick auf die Gegenwart zu schärfen. Dafür bedurfte es allerdings spezifischer Voraussetzungen, die inzwischen kaum mehr gegeben sind: eines Kanons, der die Beschäftigung mit Unkanonischem nicht ausschloss, jedoch die lebendige Kenntnis der Tradition als Voraussetzung von deren Kritik begriff; eines Blicks auf literarische Werke, der deren Kontexte aus den Werken zu entfalten bemüht war, statt die Lektüre der Werke durch simulierte Kenntnis der Kontexte zu ersetzen; einer Lehre, die die Fähigkeit vermittelte, nicht einfach über die Werke, sondern in einer ihnen angemessenen Weise zu schreiben; schließlich achtungsvoller Offenheit gegenüber anderen Literaturen, die sich der Inkommensurabilität verschiedener nationalsprachlicher Traditionen ebenso bewusst war wie deren wechselseitiger Beeinflussung.
Der Versuch, die institutionelle Trennung zwischen den nationalsprachlichen Philologien aufzuheben, ohne das in ihnen Gelehrte zugunsten interdisziplinärer Beliebigkeit preiszugeben, wurde seit den 60ern an Instituten für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft unternommen, zuvorderst am von Peter Szondi geprägten AVL-Institut der Freien Universität Berlin. Was aus diesem geworden ist, seit die Studiengänge modularisiert wurden, spiegelt den Zustand der Philologien un- ter dem Primat der Kulturwissenschaften wider. Neurophilosophischer Spiritismus soll die Rezeptionsforschung, einst eine sozialgeschichtliche Disziplin, naturwissenschaftlich aufnorden, Emotions-, Atmosphäre- und Erlebnisforscher erwecken die Kategorien des Irrationalismus der Zwischenkriegszeit zum Leben, Interdisziplinarität schlägt um in Adisziplinarität, wo die Normen der Fachdisziplin nicht überschritten, sondern missachtet werden. Sollte die in manchen Bundesländern durchgesetzte Regel, dass für die Aufnahme eines Studiums der Romanistik oder Anglistik die Beherrschung der jeweiligen Literatursprache keine Voraussetzung mehr ist, bundesweit zur Gewohnheit werden, hätten die Philologien den Sinn ihrer Fachbezeichnung vollends preisgegeben.
Das Ergebnis solcher Entwicklungen sind Literaturwissenschaftler, wie Doerry sie sich wünscht: ehrfürchtig erstarrend vor den großen Dichtern, deren Texte zugleich gewissenlos geplündert werden; jederzeit bereit, in der eigenen Arbeit das sprachliche Niveau des Journalismus zu unterbieten, dem man zugleich literarische Unkenntnis und sprachliche Unfähigkeit vorwirft; total bewandert im Umgang mit Facebook und Twitter, aber sofort beleidigt, wenn die eigene Arbeit einmal wirklich kritisiert statt kritisch goutiert wird.
Fantasielose Denkbeamte gab es unter Geisteswissenschaftlern schon lange vor den jüngsten Studienreformen. Dass sie sich ausgerechnet wegen ihrer Fantasielosigkeit am Puls der Gegenwart wähnen, die ihnen auch noch darin Recht gibt, weil die Einbildungskraft der Zeitgenossen beim freien Schweben irgendwo zwischen Whatsapp und Existenzgründungsantrag hängengeblieben ist – das allerdings ist wirklich ein Zeichen der Zeit.