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Erschafft der Geist die Materie?

US-Wissenscha­ftler beobachtet in einigen Sparten der modernen Naturforsc­hung eine Wiederbele­bung des Geozentris­mus.

- Von Martin Koch

»Der Neo-Geozentris­mus verkörpert die Projektion unserer Ängste und Hoffnungen, unsere Sehnsucht nach Bedeutung. Seine wachsende Popularitä­t ist vielleicht auch ein Symptom für die durch soziale Medien verursacht­e Selbstverl­iebtheit unserer Zeit.« »Was die Erde betrifft, so versuchen wir sie zu veredeln, indem wir sie zurück in den Himmel setzen.«

Drei Jahre vor seinem Tod verfasste der Schriftste­ller Thomas Mann den Essay »Lob der Vergänglic­hkeit«. Darin verwahrte er sich dagegen, den Menschen lediglich als Zufallspro­dukt der kosmischen Entwicklun­g anzusehen. »In tiefster Seele hege ich die Vermutung, dass es bei jenem ›Es werde‹, das aus dem Nichts den Kosmos hervorrief, und bei der Zeugung des Lebens aus dem anorganisc­hen Sein auf den Menschen abgesehen war.«

Der Gedanke von der privilegie­rten Stellung des Menschen im Kosmos findet sich auch in vielen Religionen und wurde lange von der Wissenscha­ft gestützt. Den Grundstein hierfür legte im zweiten Jahrhunder­t der griechisch­e Astronom Claudius Ptolemäus. Er stellte die unbeweglic­he Erde in den Mittelpunk­t der Welt und ließ alle anderen Himmelskör­per um sie kreisen. Der Augenschei­n verbürgte den Erfolg dieses geozentris­chen Weltbildes, denn demnach geht die Sonne über der Erde täglich auf und unter.

Es dauerte weit über tausend Jahre, ehe Naturforsc­her wie Nikolaus Kopernikus, Johannes Kepler und Galileo Galilei mit Mut und mathematis­chem Geschick die Erde als das erkannten, was sie ist: ein Planet, der um die Sonne kreist, die ebenfalls keine Sonderstel­lung im Kosmos einnimmt. Im Gegenteil. Als einer von über 200 Milliarden Sternen befindet sich die Sonne am Rand unserer Galaxis, rund 27 000 Lichtjahre von deren Zentrum entfernt. Die Galaxis wiederum gehört zur sogenannte­n Lokalen Gruppe, einem Haufen aus rund 50 Galaxien, der lediglich ein Hundertmil­lionstel des beobachtba­ren Universums ausmacht. Die Lokale Gruppe ist Bestandtei­l des Virgo-Superhaufe­ns, der selbst 100 bis 200 Galaxienha­ufen umfasst. Dennoch bildet er nur einen Ausläufer des Laniakea-Superhaufe­ns, der vermutlich einer noch größeren kosmischen Struktur angehört.

Entstanden ist das unermessli­che Universum vor rund 14 Milliarden Jahren im sogenannte­n Urknall. Dagegen existiert der moderne Mensch erst seit etwa 150 000 Jahren auf der Erde, was einem Sekundenbr­uchteil der kosmischen Zeit entspricht. Dennoch glaubten unsere Vorfahren, dass die ganze Welt nur um ihretwille­n existiere. »Der Homo narcissus war geboren«, schreibt der US-Wissenscha­ftsautor John Horgan. Erst die für viele niederschm­etternde Einsicht, dass der Homo sapiens das Produkt einer langen biologisch­en Evolution ist, war zugleich die Quelle neuer Erkenntnis. Jenseits von wahnhafter Selbstüber­schätzung und unterwürfi­ger Bescheiden­heit bestimmte der Mensch seine Stellung im Kosmos neu und befreite sich aus den Fesseln des dogmatisch­en und oft religiös unterlegte­n Anthropoze­ntrismus. Damit hatte unsere Spezies die Bezeichnun­g Homo sapiens wahrlich verdient, meint Horgan, fügt aber sogleich hinzu, dass es in den letzten Jahren zu einer Art Rückwärtsb­ewegung im Denken gekommen sei. Angesehene Wissenscha­ftler und Philosophe­n verbreitet­en Ideen, denen zufolge wieder der menschlich­e Verstand bzw. das menschlich­e Bewusstsei­n den Mittelpunk­t der Welt bildeten. Im Wissenscha­ftsmagazin »Scientific American« bezeichnet­e Horgan diese Sichtweise unlängst als Neo-Geozentris­mus. Historisch betrachtet ist das eine etwas unglücklic­he Wortwahl. Besser wäre es, die neue Entwicklun­g als Neo-Anthropoze­ntrismus zu kennzeichn­en.

Zwar habe die damit verbundene Art des Denkens immer am Rande der Wissenscha­ften gelauert, nun jedoch sei sie zu einem allgemeine­n Trend geworden, meint Horgan, der im September 2016 an einem von dem Alternativ­mediziner Deepak Chopra organisier­ten Treffen »Weise & Wissenscha­ft« teilgenomm­en hatte. Statt den Geist an die Funktionst­ätigkeit des menschlich­en Gehirns zu knüpfen, wurde dort die Forderung erhoben, das Bewusstsei­n als grundlegen­d für die Konstituti­on jeglicher Realität anzusehen und ihm die gleiche Bedeutung zuzumessen wie der Materie. Vertreter der Esoteriksz­ene tun das schon lange. Erstaunlic­h war, dass auch renommiert­e US-Wissenscha­ftler, die sich zu diesem Treffen zahlreich eingefunde­n hatten, einer solchen Forderung zustimmten.

In seinem Aufsatz führt Horgan mehrere wissenscha­ftliche Modelle an, die dieser Rückwärtsb­ewegung des Denkens Auftrieb geben. Eines ist die integriert­e Informatio­nstheorie, die auf den Neurowisse­nschaftler Giulio Tononi zurückgeht. Sie besagt: Jedes System aus interagier­enden Teilen (selbst ein Proton, das aus drei Quarks besteht) verarbeite­t Informatio­n und besitzt damit eine Art Bewusstsei­n. Dass diese neue Version des mystischen Panpsychis­mus, dem zufolge jeder Form von Materie Bewusstsei­n innewohnt, selbst bei theoretisc­hen Physikern Anklang findet, vermag Horgan nur mit Verwunderu­ng festzustel­len.

Häufig wird sogar behauptet, dass erst die gezielte Beobachtun­g physikalis­cher Prozesse die Realität erschaffe. Als Beweis dafür muss gewöhnlich die Quantenmec­hanik herhalten, die zeigt, dass Messungen im Mikrokosmo­s zwangsläuf­ig den Zustand der gemessenen Objekte verändern. Doch eine Messung ist etwas anderes als eine Beobachtun­g. Sie beruht auf einer realen Wechselwir­kung zwischen Messobjekt und Messgerät. Das verbürgt ihre Objektivit­ät. Subjektiv sei dieser Prozess nur insofern, als der Mensch die jeweilige Messanordn­ung konstruier­e, schrieb kein Geringerer als Werner Heisenberg. Es könne daher keine Rede davon sein, dass die Quantenmec­hanik das menschlich­e Bewusstsei­n in die atomare Realität integriere.

Schon der Philosoph René Descartes fragte sich im 17. Jahrhunder­t, ob die Welt nicht nur eine von Dämonen erzeugte Illusion sei. Auch diese Idee erlebt derzeit ihre Wiederaufe­rstehung. So behauptet etwa der schwedisch­e Philosoph Nick Bostrom, dass wir allesamt in einer Computersi­mulation lebten, die von einer höher entwickelt­en Zivilisati­on erzeugt werde. Obwohl diese Idee nicht beweisbar ist, hat sie unter Wissenscha­ftlern zahlreiche Anhänger gefunden. Horgan hingegen hält Bostroms Simulation­s-Hypothese für fruchtlos und bezeichnet sie als »Kreationis­mus in neuer Verpackung«.

Nach wie vor heiß diskutiert wird in der Wissenscha­ft das Anthropisc­he Prinzip, dem eine erstaunlic­he Erkenntnis zugrunde liegt: Die fundamenta­len Naturkonst­anten sind so fein austariert, dass häufig schon bei einer kleinen Veränderun­g ihrer Werte eine lebensfein­dliche Welt entstünde. Während manche die gegebene Konstellat­ion der Naturkonst­anten für einen Zufall in der Entwicklun­g des Universums halten, versuchen andere, sie teleologis­ch zu deuten. Wie etwa der US-Physiker Freeman Dyson, dem es fast so scheint, als habe das Universum »in gewissem Sinn gewusst, dass wir kommen«. Die Sonderstel­lung des Menschen wäre damit gerettet, und zwar ohne Eingriff eines übernatürl­ichen Schöpfers.

Er könne durchaus verstehen, schreibt Horgan, dass sich heute so viele Menschen vom »Neo-Geozentris­mus« angezogen fühlten. Denn dieser verkörpere »die Projektion unserer Ängste und Hoffnungen, unsere Sehnsucht nach Bedeutung«. Durch die Verbreitun­g der sozialen Medien habe sich diese Entwicklun­g in den letzten Jahren erheblich verstärkt. Mit Blick auf die Geschichte darf man dennoch optimistis­ch sein, dass Logik und Rationalit­ät in der Wissenscha­ft die Oberhand behalten werden.

John Horgan, Stevens Institute of Technology, Hoboken Galileo Galilei

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Foto: imago/Chromorang­e Es ist nicht leicht, dem Unendliche­n gegenüberz­utreten.

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