Kränkung der Menschheit
Vor 100 Jahren verfasste Sigmund Freud einen Aufsatz mit dem Titel »Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse«. Darin behauptete er, dass neben seiner Lehre vom Unbewussten noch zwei weitere Entdeckungen die menschliche Eigenliebe schwer erschüttert hätten: die Darwinsche Abstammungstheorie und das heliozentrische Weltsystem, demzufolge die Erde nicht im Zentrum des Kosmos steht, sondern nur ein gewöhnlicher Planet ist, der um die Sonne kreist. Viele Menschen empfänden dies als »kosmologische Kränkung«, meinte Freud und prägte damit eine Wendung, die seitdem Eingang in die Literatur gefunden hat. Doch beruht sie überhaupt auf Tatsachen?
Der französische Philosoph Rémi Brague bestreitet das. Die zentrale Stellung der Erde im geozentrischen Weltsystem sei keineswegs ein Ehrenplatz gewesen, sondern ein Ort der Schande, »mehr ein Abfalleimer als ein Thron«. An einem solchen Ort leben zu müssen, habe die Menschen im Mittelalter gedemütigt, nicht aber der Akt des Kopernikus, durch den sie gleichsam von dort vertrieben worden seien.
Dieser verblüffenden Idee hat sich auch der bekannte deutsche Wissenschaftshistoriker Ernst Peter Fischer angeschlossen. Was Freud über die Kränkung durch den Heliozentrismus geschrieben habe, sei das Gegenteil der Wahrheit. Zur Bekräftigung zitiert Fischer Galilei, der in seinem »Dialog über die beiden hauptsächlichsten Weltsysteme« den wissenschaftlich beschlagenen Salviati sagen lässt: »Was die Erde betrifft, so versuchen wir sie zu veredeln, indem wir sie zurück in den Himmel setzen.« Für Fischer liegt der Sinn dieser Worte auf der Hand: »Als Kopernikus die Erde aus der Mitte nahm, brachte er sie – und damit uns – näher zu den Göttern. Und so wurde sein Tun von den Zeitgenossen verstanden.«
Letzteres ist stark zu bezweifeln. Denn für die meisten Menschen im späten Mittelalter waren die Worte der Kirche maßgebend. Und die Kirche bestand auf der privilegierten Stellung der Erde im Zentrum von Gottes Schöpfung. Im 13. und 14. Jahrhundert hatte eine regelrechte Verschmelzung des christlichen Denkens mit dem Geozentrismus stattgefunden, so dass ein Angriff auf Letzteren einem Angriff auf das Christentum gleichkam.
Fischers Aussage, wonach eine im Zentrum platzierte Erde im Verständnis des Mittelalters der »Abtritt« der Welt gewesen sei, erscheint in dieser Zuspitzung kaum glaubhaft. In keinem imposanten Gebäude (und ein von Gott erschaffener Kosmos kann in gewisser Weise als solches gelten) stehen der Abtritt oder der Abfalleimer im Zentrum, sondern eher verschämt am Rand. Theologen hätten überdies fragen können, warum die von Kopernikus »nach oben« verschobene Erde zwischen Venus und Mars um die Sonne kreist und nicht auf der äußersten Planetenbahn, die laut christlicher Kosmologie dem Reich Gottes am nächsten war.
An Freuds Kränkungsthese gibt es gewiss manches zu kritisieren. Gleichwohl spricht vieles dafür, dass die Menschen in nachkopernikanischer Zeit die Entfernung der Erde aus dem Mittelpunkt der Schöpfung nicht als Segen, sondern als Anschlag auf die göttliche Ordnung empfanden.