Die Macht kam von der Mutter
Einzigartiger Fund im Südwesten der USA belegt matrilineare Herrschaftsverhältnisse. Lewis H. Morgan und Friedrich Engels und bekommen nachträglich Recht.
Ein Besuch der längst verlassenen Ruinenstätten gehört zu den Höhepunkten einer Reise in den Südwesten der USA. Sie sind die handgreiflichen Hinterlassenschaften einer Kultur, die zwischen 800 und 1130 blühte. Trotz umfangreicher Bewässerungsanlagen, die noch heute existieren, zwangen eine wahrscheinlich Jahrzehnte währende Dürre und Angriffe feindlicher Nomaden die Anasazi, »die Alten«, ihre Siedlungen aufzugeben. Ihre materielle Kultur ist recht gut erforscht, zumal viele Parallelen zu den noch heute existierenden Kulturen der Hopi, Keres, Zuñi und anderer Völker in diesem Gebiet gezogen werden können. Ungleich schwieriger zu erforschen ist hingegen ihre soziale Organisation, da die Anasazi wie die meisten indianischen Völker eine Kultur ohne schriftliche Hinterlassenschaften waren.
Ein seltener Einblick in die Organisation der führenden Anasazi-Familien gelang einer amerikanischen Forschergruppe um Douglas J. Kennett. In den rund 800 Räumen der größten Siedlung der Chaco-CanyonKultur lebten zu ihrer Blütezeit mehrere Tausend Menschen. Schon vor über 100 Jahren wurde eine reich geschmückte Grabkammer gefunden, die 13 Skelette enthielt. Kennetts Gruppe machte sich daran, die etwas wahllos aufbewahrten Knochen den einzelnen Individuen zuzuordnen und von neun eindeutig identifizierten Personen DNA-Proben zu entnehmen. Hier zeigte sich, dass es sich um Mutter-Tochter-Beziehungen bzw. die Verwandtschaft der Großmutter mit dem Enkel handelte. Die Altersbestimmung der Gebeine mittels der C14-Methode ergab, dass die führen- de Familie ihre Herrschaft über etwa 350 Jahre, also die gesamte Lebenszeit der Siedlung, aufrechterhielt. Die DNA-Untersuchung wiederum belegt, dass die Vererbung der Macht über die mütterliche Linie verlief. Damit ist nicht gesagt, dass Frauen direkt die Macht ausübten, sondern nur, dass die Abstammung aus dem Klan der Mutter entscheidend war, um die Führungsposition einnehmen zu können.
Die Anasazi stehen mit dem Festhalten an der Matrilinearität nicht allein da in Nord- und Lateinamerika. Hernando de Soto, der erste spani- sche Eroberer im heutigen Südosten der USA, traf die sogenannte Königin der Cofitachequi, die Häuptling von mehreren Tausend Menschen war. Da die spanischen Konquistadoren sich für das Gold, nicht aber für die Familienverhältnisse ihrer indianischen Gegenspieler interessierten, kann man in den meisten Fällen über die Bedeutung der mütterlichen Abstammungslinie heute nur noch mutmaßen.
Indizien, die eine Matrilinearität bei der Mississippi-Kultur nahelegen, die sich entlang des mächtigen nordame- Türkisschmuck und andere Funde aus Pueblo Bonito (New Mexico, USA) rikanischen Stromes und zahlreicher seiner unteren Nebenflüsse erstreckte, gibt es jedoch. Die Kultur der Natchez überlebte als einzige die ersten Jahrzehnte europäischer Kolonisation. Aufzeichnungen französischer Beamter und Geistlicher sagen eindeutig aus, dass Große Sonne, wie der immer männliche Herrscher der Natchez genannt wurde, stets eine Mutter aus dem Sonnenklan haben musste. Die modernen Stämme des Südostens, die Wurzeln in der Mississippi-Kultur haben, waren ebenfalls matrilinear organisiert. Das betrifft u. a. die Cherokee, Seminolen, Creek und Choctaw. Über den ganzen Kontinent verstreut finden sich andere Beispiele wie die einschlägig bekannten Irokesen, Lenape, Apache und die Hopi, Keres, Zuñi, die das Erbe der Anasazi antraten.
Ein Blick auf die indigenen Völker Lateinamerikas zeichnet ein ähnliches Bild wie im Norden. So waren die zahlreichen Völker der arawakischen Sprachfamilie, die zwischen der Karibik und dem Gran Chaco im Norden Argentiniens siedelten, matrilinear organisiert. Selbst die so mächtigen Inkaherrscher mussten zu einem Trick greifen, um die Übergabe der Macht an den Sohn zu sichern. Während die meisten ihrer Untertanen sich an der väterlichen Linie orientierten, wenn es um die Abstammung ging, waren die verschiedenen Linien der weitverzweigten Inka-Familien matrilinear organisiert. Um die Macht im engsten Hause zu behalten, musste die Hauptfrau des regierenden Inka daher seine Vollschwester sein. Nur Usurpation, wie sie im Verlauf der Inkageschichte ebenfalls vorkam, konnte daher die Macht von einem Zweig der Familie auf den anderen verlagern. Das erklärt beispielsweise, warum die letzten Inka Manco und Tupac Amaru alles daransetzten, die Gefangennahme ihrer Schwester-Frau durch die Spanier zu verhindern. Neidische Verwandte, die mit den Spaniern kollaborierten, hätten sonst Thronansprüche anmelden können, während sie selbst die Legitimität in den Augen der verbliebenen Untertanen verloren hätten.
Europäer und Amerikaner sahen bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Abstammung vom Vater als die natürliche Art an und erst die Forschungen des amerikanischen Anthropologen Lewis H. Morgan bei den Irokesen zeigte ein anderes Konzept. Die formelle Macht und überwiegend auch die Repräsentation wurde durch Männer wahrgenommen, aber die irokesischen Klanmütter hatten ein gewichtiges Wörtchen mitzureden bei ihrer Wahl oder auch Abwahl. Das ließ Morgan und später auch Johann Bachofen und Friedrich Engels schlussfolgern, dass die Matrilinearität in den frühen Phasen der Menschheit die Norm und nicht die Ausnahme gewesen ist.
Das Haus, die Felder und Ernten gehörten in der Regel den Frauen, die somit eine ganz andere gesellschaftliche Stellung einnahmen als die Frauen der europäischen Kolonisten. Um die Vererbung in der mütterlichen Linie zu sichern, ist es ausschlaggebend, dass Kinder grundsätzlich dem Klan der Mutter zugerechnet wurden und die Töchter auch nach ihrer Verheiratung bei der Mutter verblieben. Nichten und Neffen hatten für die Männer deshalb oft einen höheren Stellenwert als der eigene Nachwuchs, denn sie kamen aus dem Klan der Mutter.
Das Verdienst von Kennetts Team liegt darin, Überlieferungen der indianischen Völker und eine lange Zeit als fragwürdig abgetane wissenschaftliche Theorie belegen zu können. Auch wenn die meisten Gesellschaften der Erde sich heute in der Abstammung nach dem Vater richten, erlauben besondere Fundumstände den Beweis, dass das Matriarchat eine alte Institution ist und der Klanmutter die Macht gab, den Herrschaftsstab in der eigenen Familie weiterzugeben.