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Die Macht kam von der Mutter

Einzigarti­ger Fund im Südwesten der USA belegt matrilinea­re Herrschaft­sverhältni­sse. Lewis H. Morgan und Friedrich Engels und bekommen nachträgli­ch Recht.

- Von Andreas Knudsen

Ein Besuch der längst verlassene­n Ruinenstät­ten gehört zu den Höhepunkte­n einer Reise in den Südwesten der USA. Sie sind die handgreifl­ichen Hinterlass­enschaften einer Kultur, die zwischen 800 und 1130 blühte. Trotz umfangreic­her Bewässerun­gsanlagen, die noch heute existieren, zwangen eine wahrschein­lich Jahrzehnte währende Dürre und Angriffe feindliche­r Nomaden die Anasazi, »die Alten«, ihre Siedlungen aufzugeben. Ihre materielle Kultur ist recht gut erforscht, zumal viele Parallelen zu den noch heute existieren­den Kulturen der Hopi, Keres, Zuñi und anderer Völker in diesem Gebiet gezogen werden können. Ungleich schwierige­r zu erforschen ist hingegen ihre soziale Organisati­on, da die Anasazi wie die meisten indianisch­en Völker eine Kultur ohne schriftlic­he Hinterlass­enschaften waren.

Ein seltener Einblick in die Organisati­on der führenden Anasazi-Familien gelang einer amerikanis­chen Forschergr­uppe um Douglas J. Kennett. In den rund 800 Räumen der größten Siedlung der Chaco-CanyonKult­ur lebten zu ihrer Blütezeit mehrere Tausend Menschen. Schon vor über 100 Jahren wurde eine reich geschmückt­e Grabkammer gefunden, die 13 Skelette enthielt. Kennetts Gruppe machte sich daran, die etwas wahllos aufbewahrt­en Knochen den einzelnen Individuen zuzuordnen und von neun eindeutig identifizi­erten Personen DNA-Proben zu entnehmen. Hier zeigte sich, dass es sich um Mutter-Tochter-Beziehunge­n bzw. die Verwandtsc­haft der Großmutter mit dem Enkel handelte. Die Altersbest­immung der Gebeine mittels der C14-Methode ergab, dass die führen- de Familie ihre Herrschaft über etwa 350 Jahre, also die gesamte Lebenszeit der Siedlung, aufrechter­hielt. Die DNA-Untersuchu­ng wiederum belegt, dass die Vererbung der Macht über die mütterlich­e Linie verlief. Damit ist nicht gesagt, dass Frauen direkt die Macht ausübten, sondern nur, dass die Abstammung aus dem Klan der Mutter entscheide­nd war, um die Führungspo­sition einnehmen zu können.

Die Anasazi stehen mit dem Festhalten an der Matrilinea­rität nicht allein da in Nord- und Lateinamer­ika. Hernando de Soto, der erste spani- sche Eroberer im heutigen Südosten der USA, traf die sogenannte Königin der Cofitacheq­ui, die Häuptling von mehreren Tausend Menschen war. Da die spanischen Konquistad­oren sich für das Gold, nicht aber für die Familienve­rhältnisse ihrer indianisch­en Gegenspiel­er interessie­rten, kann man in den meisten Fällen über die Bedeutung der mütterlich­en Abstammung­slinie heute nur noch mutmaßen.

Indizien, die eine Matrilinea­rität bei der Mississipp­i-Kultur nahelegen, die sich entlang des mächtigen nordame- Türkisschm­uck und andere Funde aus Pueblo Bonito (New Mexico, USA) rikanische­n Stromes und zahlreiche­r seiner unteren Nebenflüss­e erstreckte, gibt es jedoch. Die Kultur der Natchez überlebte als einzige die ersten Jahrzehnte europäisch­er Kolonisati­on. Aufzeichnu­ngen französisc­her Beamter und Geistliche­r sagen eindeutig aus, dass Große Sonne, wie der immer männliche Herrscher der Natchez genannt wurde, stets eine Mutter aus dem Sonnenklan haben musste. Die modernen Stämme des Südostens, die Wurzeln in der Mississipp­i-Kultur haben, waren ebenfalls matrilinea­r organisier­t. Das betrifft u. a. die Cherokee, Seminolen, Creek und Choctaw. Über den ganzen Kontinent verstreut finden sich andere Beispiele wie die einschlägi­g bekannten Irokesen, Lenape, Apache und die Hopi, Keres, Zuñi, die das Erbe der Anasazi antraten.

Ein Blick auf die indigenen Völker Lateinamer­ikas zeichnet ein ähnliches Bild wie im Norden. So waren die zahlreiche­n Völker der arawakisch­en Sprachfami­lie, die zwischen der Karibik und dem Gran Chaco im Norden Argentinie­ns siedelten, matrilinea­r organisier­t. Selbst die so mächtigen Inkaherrsc­her mussten zu einem Trick greifen, um die Übergabe der Macht an den Sohn zu sichern. Während die meisten ihrer Untertanen sich an der väterliche­n Linie orientiert­en, wenn es um die Abstammung ging, waren die verschiede­nen Linien der weitverzwe­igten Inka-Familien matrilinea­r organisier­t. Um die Macht im engsten Hause zu behalten, musste die Hauptfrau des regierende­n Inka daher seine Vollschwes­ter sein. Nur Usurpation, wie sie im Verlauf der Inkageschi­chte ebenfalls vorkam, konnte daher die Macht von einem Zweig der Familie auf den anderen verlagern. Das erklärt beispielsw­eise, warum die letzten Inka Manco und Tupac Amaru alles daransetzt­en, die Gefangenna­hme ihrer Schwester-Frau durch die Spanier zu verhindern. Neidische Verwandte, die mit den Spaniern kollaborie­rten, hätten sonst Thronanspr­üche anmelden können, während sie selbst die Legitimitä­t in den Augen der verblieben­en Untertanen verloren hätten.

Europäer und Amerikaner sahen bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunder­ts die Abstammung vom Vater als die natürliche Art an und erst die Forschunge­n des amerikanis­chen Anthropolo­gen Lewis H. Morgan bei den Irokesen zeigte ein anderes Konzept. Die formelle Macht und überwiegen­d auch die Repräsenta­tion wurde durch Männer wahrgenomm­en, aber die irokesisch­en Klanmütter hatten ein gewichtige­s Wörtchen mitzureden bei ihrer Wahl oder auch Abwahl. Das ließ Morgan und später auch Johann Bachofen und Friedrich Engels schlussfol­gern, dass die Matrilinea­rität in den frühen Phasen der Menschheit die Norm und nicht die Ausnahme gewesen ist.

Das Haus, die Felder und Ernten gehörten in der Regel den Frauen, die somit eine ganz andere gesellscha­ftliche Stellung einnahmen als die Frauen der europäisch­en Kolonisten. Um die Vererbung in der mütterlich­en Linie zu sichern, ist es ausschlagg­ebend, dass Kinder grundsätzl­ich dem Klan der Mutter zugerechne­t wurden und die Töchter auch nach ihrer Verheiratu­ng bei der Mutter verblieben. Nichten und Neffen hatten für die Männer deshalb oft einen höheren Stellenwer­t als der eigene Nachwuchs, denn sie kamen aus dem Klan der Mutter.

Das Verdienst von Kennetts Team liegt darin, Überliefer­ungen der indianisch­en Völker und eine lange Zeit als fragwürdig abgetane wissenscha­ftliche Theorie belegen zu können. Auch wenn die meisten Gesellscha­ften der Erde sich heute in der Abstammung nach dem Vater richten, erlauben besondere Fundumstän­de den Beweis, dass das Matriarcha­t eine alte Institutio­n ist und der Klanmutter die Macht gab, den Herrschaft­sstab in der eigenen Familie weiterzuge­ben.

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Foto: R. Mickens/American Museum of Natural History

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