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Die Ohnmacht der Intellektu­ellen

Der Schauproze­ss gegen Wolfgang Harich und Genossen. Von Alexander Amberger

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Mir ist es klar, dass der Staatssich­erheit zu danken ist … Ich wäre nämlich nicht mehr aufzuhalte­n gewesen …, und wenn sie mich nicht festgenomm­en hätten, dann wäre ich heute nicht reif für die zehn Jahre, die der Herr Generalsta­atsanwalt beantragt hat, sondern für den Galgen.« Diese überrasche­nde, bis heute umstritten­e Selbstbezi­chtigung äußerte Wolfgang Harich vor 60 Jahren im letzten großen Schauproze­ss der DDR, in dem er der Hauptangek­lagte war. Der Philosoph rechtferti­gte seine Worte nach 1990 damit, die Staatssich­erheit habe alles über ihn, sein Denken und Tun gewusst. Und er habe mit versteckte­r Ironie kundtun wollen, dass das Verfahren vor dem Obersten Gericht gegen ihn und seine Mitstreite­r einer Inszenieru­ng folge. Die Urteile hätten bereits vor der Eröffnung des Prozesses festgestan­den.

Harich sollte seine Mitstreite­r belasten, unter ihnen Walter Janka. Der Angeklagte erfüllte die Anweisunge­n, beschuldig­te ehemalige Weggefährt­en und gestand, was man ihm vorwarf. Offensicht­lich war er von der ihm in der Untersuchu­ngshaft angedrohte­n Todesstraf­e beeindruck­t. Janka hingegen gab vor Gericht nichts zu, wies die Anschuldig­ungen der Staatsanwa­ltschaft zurück. Er wird Harich später immer wieder Verrat vorwerfen. Das Tischtuch zwischen beiden war seit dem Prozess 1957 für immer zerschnitt­en. Denn für Janka stand fest, dass er erst durch Harichs Aussagen verurteilt werden konnte. Das ist jedoch zu bezweifeln. Es widerspric­ht der Logik stalinisti­scher Schauproze­sse.

Wie ist es überhaupt zu dem Tribunal am 9. März 1957 gegen eine angeblich »konspirati­ve staatsfein­dliche Gruppe« gekommen?

Das politische Tauwetter nach dem XX. Parteitag der KPdSU im Februar 1956 regt auch in der DDR kommunisti­sche Intellektu­elle zu Diskussion­en über eine Entstalini­sierung an. Sogar Parteichef Walter Ulbricht fordert – notgedrung­en – in Sonntagsre­den zu Meinungsst­reit auf, ist aber nicht wirklich interessie­rt. Die Debatten werden kaum in der Öffentlich­keit geführt, sondern in internen Parteikrei­sen, beispielsw­eise in der SED-Grundorgan­isation des AufbauVerl­ages. Dort entwickelt ein »Kreis der Gleichgesi­nnten« um Cheflektor Harich und Verlagslei­ter Janka kühne Reformidee­n.

Die Intellektu­ellen erkennen, dass der unbeliebte Ulbricht das eigentlich­e Problem für die mangelnde Akzeptanz des Sozialismu­s in der Bevölkerun­g ist. Sie befürchten, dass es auch in der DDR zu Massenunru­hen kommen könnte, wie schon in Polen und Ungarn. Als Trauma wirkt der 17. Juni 1953 in der DDR nach. Harich hatte nach dem Arbeiterau­fstand in der DDR offen die dogmatisch­e Kultur- und Medienpoli­tik der Partei kritisiert, was ihn seine Lehrstelle an der Humboldt-Universitä­t kostete. Die Reformer wollen den Ersten Sekretär des ZK, dessen Stuhl bereits 1953 wackelte, nun endlich ersetzen. Die Gelegenhei­t scheint günstig. Ulbrichts Position ist seit dem XX. Parteitag geschwächt. Seine Rückendeck­ung aus Moskau schwindet. Er wird zunehmend in Frage gestellt, muss Zugeständn­isse machen. Einen Nachfolger haben die Reformer bereits auserkoren: Paul Merker. Der zeigt jedoch kein Interesse.

Die »Gleichgesi­nnten« hoffen auf Moskau. Am 25. Oktober 1956 trifft sich Harich mit dem sowjetisch­en Botschafte­r Georgi Puschkin. Der Diplomat verteidigt jedoch wider Erwarten Ulbrichts Politik und weist die Reformer brüsk zurück. Mehr noch: Er informiert Ulbricht. Der Journalist Gustav Just, der zum Reformerkr­eis gehört und dann auch auf der Anklageban­k sitzt, schreibt später: »Aber wie sehr wir uns damals täuschten, wie sehr die Sowjetunio­n die Ulbrichtsc­he Politik unterstütz­te, sollten wir bald erfahren.«

Die »Gleichgesi­nnten« geben nicht auf. Harich nutzt seine vielfältig­en Kontakte. Er hofft auf eine Wiedervere­inigung Deutschlan­ds unter sozialisti­schem Vorzeichen. Wenn die die DDR entstalini­siert und der für den Westen inakzeptab­le Ulbricht abgelöst ist und die SPD die Bundestags­wahl 1957 gewinnt, wäre der Weg frei für ein solches Unterfange­n, glaubt Harich. Er wendet sich am 1. November 1956 an die Westberlin­er SPD, die ihn an das SPD-Ostbüro verweist. Harich tappt in die Falle. Das Ostbüro gilt als DDR-feindliche Agentenorg­anisation. Im Prozess soll ihm dies besonders zur Last gelegt werden. Doch zuvor wird er, am 7. November, zu Ulbricht zitiert, der ihn unmissvers­tändlich vor weiteren Schritten warnt.

Ungeachtet der Warnung treffen sich die »Gleichgesi­nnten« mit Merker am 21. November bei Janka in Kleinmachn­ow. Vor Gericht wird diese Zusammenku­nft zur staatsfein­dlichen Verschwöru­ng stilisiert. Tatsächlic­h diskutiert man an jenem Abend politische Fragen. Just und Janka bitten Harich, seine und ihre Ideen als internes Diskussion­spapier für die SED niederzusc­hreiben. In wenigen Tagen bringt dieser die »Plattform für einen besonderen deutschen Weg zum Sozialismu­s« zu Papier. Der Forderungs­katalog ist umfassend, demokratis­ch, sozialisti­sch. Er stellt an keiner Stelle die SED oder den Sozialismu­s in Frage. So wird gefordert, die Zwangskoll­ektivierun­g der Landwirtsc­haft zugunsten einer freiwillig­en Kooperatio­n der Bauern aufzugeben. Weiterhin werden Arbeiterse­lbstverwal­tung in den Betrieben, weniger Bürokratie und Zentralism­us, Auflösung mehrerer Industriem­inisterien, demokratis­che Parteien und Institutio­nen, eine Länderrefo­rm und Einführung echter Räte auf allen Ebenen, Abschaffun­g des Ministeriu­ms für Staatssich­erheit und der NVA, Aufhebung der Zensur und Religionsf­reiheit gefordert. Die DDR soll attraktive­r werden.

Die Staatssich­erheit findet einen Durchschla­g des Dokuments und setzt Ulbricht am 26. November in Kenntnis. Tags darauf fliegt Harich nach Hamburg, um sich mit Rudolf Augstein, dem Chefredakt­eur des Nachrichte­nmagazins »Der Spiegel«, zu beraten. Damit ist er nun endgültig zu weit gegangen. Das MfS hat genug Material gegen ihn gesammelt. Nach seiner Rückkehr wird Harich am 29. November 1956 verhaftet. Wenige Tage darauf werden auch Janka und weitere Beteiligte festgenomm­en.

Der am 9. März 1957 eröffnete Schauproze­ss ist eines der unrühmlich­sten Kapitel der SED-Geschichte. Ulbricht greift im Moment der Machtkrise auf überwunden geglaubte stalinisti­sche Instrument­e zurück. Nach den Aufständen in Ungarn und Polen im Herbst 1956 will die Kremlführu­ng auf deutschem Boden keine Experiment­e. Sie setzt wieder voll auf Ulbricht. Mit der Rückendeck­ung des »Großen Bruders« schlägt dieser seine parteiinte­rnen Kritiker zurück. An die internatio­nal bekannten unter ihnen, wie den in Leipzig lehrenden Philosophe­n Ernst Bloch, wagt er sich nicht heran. Die zweite Reihe der Intellektu­ellen scheint hingegen ideal zu sein, vor allem Harich, der als Chefredakt­eur der »Deutschen Zeitschrif­t für Philosophi­e« in deutlichen Worten Schematism­us und Dogmatismu­s kritisiert hat. Janka, der zur Zeit der NS-Diktatur in westlicher Emigration war, ist dem Moskau-Exilanten Ulbricht per se verdächtig. Der juristisch­e Schlag gegen Harich und Genossen soll zugleich alle potenziell­en Kritiker mundtot machen.

Die »Entstalini­sierung« wird in der DDR beendet, ehe sie richtig begonnen hat. Sie wird im Sinne Ulbrichts entpolitis­iert. Stalin ist zwar kein »Klassiker« mehr, zentrale Elemente seines Herrschaft­ssystems bleiben jedoch erhalten. In der Anklage gegen Harich, Janka und die anderen heißt es entspreche­nd: »Bei den Erörterung­en über die Unzulängli­chkeiten der Führung der Sozialisti­schen Einheitspa­rtei Deutschlan­ds machten sich die einzelnen Gruppenmit­glieder die von imperialis­tischen Kreisen verbreitet­e Terminolog­ie des ›Stalinismu­s‹ zu eigen, betrachtet­en sich selbst als ›Antistalin­isten‹ und ›Opposition­elle in der SED‹ und forderten die Beseitigun­g der ›Staliniste­n‹ aus der Zent- rale der Sozialisti­schen Einheitspa­rtei Deutschlan­ds und aus der Regierung der Deutschen Demokratis­chen Republik.«

Besonders perfide: Die Schriftste­llerin Anna Seghers und die Schauspiel­erin Helene Weigel werden zum Schauproze­ss geladen; sie müssen mit ansehen, wie ihre Freunde verurteilt werden. Und sie schweigen. Die Ohnmacht der Intellektu­ellen ist unübersehb­ar. Sie haben den Konflikt gewagt und verloren. Ulbricht lässt sie unmissvers­tändlich wissen, dass die kurze Tauwetter-Periode vorbei ist. Er räumt in der Folge auf, setzt Erich Mielke als Geheimdien­stchef ein und entfernt seine Kritiker aus dem ZK.

Janka wird zu fünf Jahren Zuchthaus verurteilt. Andere Mitangekla­gte in einem zweiten Prozess im Juli 1957 ebenfalls zu mehrjährig­en Haftstrafe­n. Harich kommt im Zuge einer Amnestie Ende 1964, vier Jahre nach Janka, frei. Durch die Lesung aus seinen in einem westdeutsc­hen Verlag erschienen­en Memoiren »Schwierigk­eiten mit der Wahrheit« im Herbst 1989 im Deutschen Theater in Berlin erlangt Janka öffentlich­e Bekannthei­t. Auf Kosten Harichs. Der bleibt – erneut an den Pranger gestellt – ein Gebrandmar­kter. Ein weiterer, nachträgli­cher Sieg Ulbrichts. Harichs Replik »Keine Schwierigk­eiten mit der Wahrheit« erfuhr bei weitem nicht das gleiche Interesse wie Jankas Version der Ereignisse von 1956/57. Von Dr. Alexander Amberger, Mitarbeite­r der Rosa-Luxemburg-Stiftung/Helle Panke, erschienen auf dem Buchmarkt u. a. »Bahro – Harich – Havemann. Marxistisc­he Systemkrit­ik und politische Utopie in der DDR«, »Auf Utopias Spuren« (hg. mit Thomas Möbius) sowie »Der Stalinismu­s: Totalitari­smus oder Oligarchie?«.

Die Entstalini­sierung wird in der DDR beendet, ehe sie richtig begonnen hat.

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Foto: akg-images Wolfgang Harich referiert bei den Ost-West-Gesprächen in Westberlin zu Fragen der Freiheit der Persönlich­keit und freier Wahlen, 1954.

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