Das Beste aus zwei Welten
Eine Reise in die Sahara hat das Leben von Brigitte Zahner völlig auf den Kopf gestellt. Ein Porträt über eine Auswanderin und ihr Leben in Marokko.
Brigitte Zahner
Hat ein freches Maul«, schrieb einst die Mutter über ihr siebtes von acht Kindern. »Ich war die erste im Spital Geborene und eine Kaiserschnittgeburt – vielleicht bin ich deshalb nicht auf den Mund gefallen«, sagt Brigitte Zahner. Wir haben Platz genommen auf einer Dachterrasse am berühmten Gauklerplatz von Marrakesch, wo Schlangenbeschwörer, Trommler und Geschichtenerzähler seit Jahrhunderten die Bevölkerung und Durchreisende unterhalten. Brigitte erzählt ihre Geschichte, wie es sie von der Schweiz nach Marokko verschlagen hat.
Vor rund 20 Jahren wirbelte eine Wüstentour das Leben der zwischen Zürich- und Walensee aufgewachsenen Bauerntochter wild durcheinander. »Die Sahara war der erste Ort in meinem Leben, wo ich mich ganz ruhig gefühlt habe, wo ich nichts musste, nichts sagen musste, nichts sein musste.« Zuerst sind ihr nur die Hände von Lahoucine Taha aufgefallen. »Zwei oder drei Wanderinnen hatten sich bei dieser Reise in unseren Tourguide verliebt – ich war eine davon«, schmunzelt die Schweizerin.
Für den heute 45-Jährigen sei es nie eine Option gewesen, in die Schweiz zu gehen. »Dort wäre ich nur ein Marokkaner mehr«, sagt Lahoucine, der eine eigene Sicht auf die Flüchtlingsbewegung nach Europa hat: »Wenn alle, die etwas erreichen wollen, auswandern, dann verändert ja niemand mein Land.« Seine Einstellung, nicht im so genannten »Paradies« Europa leben zu wollen, sei auch gut für Brigitte gewesen, »denn sonst hätten alle gesagt: Der ist ja nur mit dir zusammen wegen des Geldes oder wegen des Passes«, sagt die 47-Jährige, die sich selbst als Kopfmensch bezeichnet.
Einfach in ein fremdes Land zu gehen und dort zu schauen, was passiert, ist gegen ihr Naturell: »Ich bin jemand, der sehr gerne arbeitet, und mein Job als Kinderkrankenschwester hat mir wirklich sehr gut gefallen. Ich wollte nicht einfach nach Marokko kommen und nichts tun, nichts sein.«
Ein Freund von Brigitte und Lahoucine ist Taib Jrina, der lange in Berlin lebte. Heute ist er Stadtführer in Marrakesch und führt deutschsprachige Touristen mit seiner »Berliner Schnauze« durch die engen Gassen der Stadt. »Wenn ein Marokkaner sein Land verlässt und Asyl sucht, dann frage ich mich: warum?« Viele antworteten, es gebe keine Jobs in Marokko. »Ich sage: Es gibt in diesem Land genug zu tun.« Taib hat mit seiner Auswanderung einst schmerzhafte Erfahrungen gesammelt. Als er sich nach 16 Jahren in Deutschland spontan entschied, mit seiner elsässisch-marokkanischen Frau in seine Heimat zurückzukehren, fragte sein Umfeld zu Hause nur, wie viel Bares er aus Europa mitgebracht habe. »Keines. Ich habe kein Vermögen, antwortete ich allen damals.« Taib findet, dass man in Marokko gutes Geld verdienen kann, mehr als in Deutschland. Dafür brauche es nur drei Voraussetzungen: »frühes Aufstehen, Ehrlichkeit und ein gutes Netzwerk.« All das besitzen Brigitte und Lahouchine. Dank einer Kooperation mit dem Reiseveranstalter Weltweitwandern konnten sie vor 16 Jahren ihre eigene Trekkingfirma in Marrakesch aufbauen. »In dem Moment wusste ich, jetzt gibt es Arbeit für mich in Marokko. Also haben wir gesagt, wir versuchen es. Für meine ganze Familie und meine Freunde war es ei- ne Erlösung nach vielen Jahren Hin und Her«, erinnert sich die Unternehmerin, die zusammen mit Lahoucine mittlerweile die Verantwortung für mehrere Dutzend Mitarbeiter trägt.
Einige Zeit nach der Übersiedlung in die alte marokkanische Handelsstadt Marrakesch haben Brigitte und Lahoucine Hochzeit gefeiert. Inzwischen sind sie stolze Eltern von Khira (10) und Idir (8), die mit »Schwiizerdütsch«, der Berbersprache Tamazight sowie in der Schule mit Französisch und Arabisch viersprachig aufwachsen. »Ich spreche mit den Kindern meine Muttersprache, Lahoucine seine. Doch was ich als Mutter vermittle und er als Vater, das hat uns an die Grenze unserer Beziehung gebracht«, erzählt die Auswanderin. Nach welchem Rhythmus gelebt wird, wie und welche religiösen Feiertage die Familie mit wem und wo begeht, seien nur einige von zahlreichen Gratwanderungen. So ist es für Lahoucine eine große Herausforderung gewesen, dass Brigitte den Alltag mit klaren Schlafenszeiten regelt, vieles zu Hause nach ihr gestaltet und Deutsch als Sprache präsenter ist, obwohl Familienmitglieder von Lahoucine im gemeinsamen Haushalt leben. »Wir stellen uns die Frage, welche Sprachkultur nimmt im Familienalltag wie viel Raum ein? Wie kann Lahoucines berberische Muttersprache Tamazight, das die Kinder weder in der Schule noch im Stadtleben mit anderen Kindern sprechen, lebendig gehalten werden, auch weil es keine Kinder-CDs mit Geschichten und Liedern gibt?«, fragt sich Brigitte. Unter sich spricht das Paar – wie beim ersten Kennenlernen in der Wüste – ausschließlich auf Französisch miteinander, obwohl Lahoucine inzwischen sehr gut Deutsch mit Schweizer Zungenschlag beherrscht und auch deutschsprachige Touristen durch Marokko führt.
Neben der Muttersprache unterscheidet sich im Hause Taha-Zahner auch die Religion. Lahoucine ist Muslim, Brigitte Christin. Für sie sei es nie ein Thema gewesen, die Religion zu wechseln. »Der Zwang zu konvertieren hat so viel Schlechtes über die Welt gebracht, sei es jetzt bei Muslimen oder Christen, weil so viel manipuliert wird. Deshalb behalte ich meinen Glauben für mich«, erzählt Brigitte. Ihre Tochter und ihr Sohn sind Muslime, denn im Islam haben Kinder von Geburt an den Glauben des Vaters, ganz gleich, ob er Christ, Muslim oder Jude ist.
»Aber ich verstehe nicht, warum man sich wegen der Religion bekriegen sollte? Für mich geht es beim Islam viel um Meditation: fünf Mal am Tag beten. Man muss sauber sein. Das ist so, als wenn sich jemand Zeit nimmt und Yogaübungen macht, singt oder zeichnet«, erklärt Brigitte. Deshalb werden in der Familie christliche Feste wie Weihnachten oder Ostern genauso gefeiert wie das Hammelfest, der höchste islamische Feiertag, bei dem an den jüdischen Propheten Abraham erinnert wird. »Normalerweise haben wir in unserem Haus in Marrakesch sogar einen Christbaum, vor zwei Jahren ausnahmsweise nicht, weil wir zu Weihnachten in die Schweiz geflogen sind.«
Brigitte weiß, dass sie die kulturelle und religiöse Gratwanderung nur dann schafft, wenn sie sich nicht alles zu Herzen nimmt, zum Beispiel, wenn Lahoucine beim Feiern von Weihnachten nicht oder nur zum Teil dabei ist. »Einige Traditionen bringen wir den Kindern gemeinsam bei und andere getrennt. Frei nach dem Motto: Leben und leben lassen«, sagt die Schweizerin.
Ein weiser Mann hat einmal über die richtige Erziehung von Kindern gesagt: »Bis zum Alter von sieben, soll dein Kind hinter dir stehen und du sollst es beschützen. Von sieben bis 14 soll dein Kind neben dir stehen, du sollst alle Fragen beantworten und ab und zu zeigen, wer der Chef ist. Von 14 bis 21 soll das Kind vor dir stehen, und das heißt für dich als Erzieher: drei Schritte zurückgehen, dem Kind Freiheit geben, aber es immer an der Leine halten. Nach 21 sollst du dein Kind loslassen.« So lautet sinngemäß eine der vielen Empfehlungen des Islam, wie man seine Kinder erziehen soll.
Die Schweizerin findet, dass diese Worte etwas für sich haben und Teil der Erziehung sein können, aber nicht müssen. Sie selbst versucht, ihren beiden Kindern eine Basis zu geben, von der aus sie sich entfalten können und die Welt entdecken. »Ich möchte es eigentlich so handhaben wie meine Mutter: loslassen, sie ihren Weg gehen lassen, aber immer auch vorleben und vermitteln: Egal, was ist, ihr dürft immer wieder heimkommen – also nicht die Kinder einfach rausschmeißen und das Elternhaus verschließen.« Elternsein sei als Paar eine große Herausforderung. Das Elternsein in einer bikulturellen Beziehung ist nach der Erfahrung von Lahoucine und Brigitte noch ein »Verstärker der verschiedenen Wahrnehmungen, Stärken und Schwächen, Kanten und Ecken der Beziehung«.
Hat Brigitte nach 16 Lebensjahren in Marokko, in einer unruhigen Nacht, schon einmal über eine Rückkehr nach Europa nachgedacht? »Wir fühlen uns sehr wohl hier in Marrakesch. Dass wir als Familie in die Schweiz gehen, dafür müsste etwas völlig Unvorhergesehenes passieren, zum Beispiel Krieg«, sind sich Lahoucine und Brigitte einig. Für die Schul- und Berufsausbildung ihrer Kinder sieht die Sache anders aus. »Da können wir uns schon vorstellen, dass sie einmal in die Schweiz gehen, wenn sie das wollen. Unseren Kleinen gefällt es gut in meiner Heimat und beide werden ihren Weg gehen«, sagt Brigitte.
»Ich spreche mit den Kindern meine Muttersprache, Lahoucine seine. Doch was ich als Mutter vermittle und er als Vater, das hat uns an die Grenze unserer Beziehung gebracht.«